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Die Nato und die Konstruktion des russischen Informationskriegs

15.02.2017 - Florian Rötzer

Ein von der Nato veröffentlichtes "Handbuch für den russischen Informationskrieg" gegen den Strich gelesen

Bereits Ende des letzten Jahres wurde von der Nato ein "Handbuch für den russischen Informationskrieg" veröffentlicht. Es richtet sich an Nato-Mitarbeiter, die "mit den russischen Prinzipien der Kriegsführung" nicht vertraut sind, und stellt die angebliche russische Doktrin des Informationskriegs, Cyberwar eingeschlossen, vor.

Es werden vornehmlich russische Quellen verwendet, der Autor des Handbuchs schreibt allerdings, dass die russische Quellen nicht die russischen Konzepte direkt beschreiben, sondern in der Regel die Ansätze, von denen sie annehmen, dass sie von ausländischen Mächten praktiziert werden, um Russland zu schaden. Die sollen dann irgendwie indirekt zeigen, was "Russlands Doktrin" ist, wobei ziemlich wahllos zitiert wird. Ansonsten werden westliche Autoren zitiert, die erklären, wie die russische Strategie sein soll. Es fällt auf, dass das Handbuch nicht die Informations- bzw. Cyberstrategien und vor allem -praktiken der Nato-Staaten erklärt, sondern höchstens auf offizielle Erklärungen und Definitionen zurückgreift, um von diesen aus zu schließen, dass Russland und die Nato auf völlig verschiedenen Ebenen operieren.

Der Informationskrieg werde von Russland unabhängig von Krieg und Frieden geführt, während er im Westen angeblich als begrenzte Informationsoperation während Auseinandersetzungen gilt. Der russische Informationskrieg schließe das "Stehlen, Platzieren, Verhindern, Manipulieren, Verändern und Zerstören von Information" ein. Davon könne alles von Computer bis Smartphones, von wirklichen oder erfundenen Nachrichten bis hin Äußerungen von Politikern oder Prominenten betroffen sein, auch Trollkampagnen, Textbotschaften, Äußerungen besorgter Bürger oder YouTube-Videos. Dabei gehe es um das Erreichen strategischer Zwecke. Als Beispiel wird genannt, den Konsens in der Nato über die Beistandspflicht, Artikel 5, zu untergraben.

Nach dem Autor des Handbuchs ist für Russland Information immer "eine Waffe, ein Ziel und ein Operationsgebiet" im breit angelegten Konzept des Informationskriegs. Man suche Überlegenheit, da Informationskrieg der Ausgang der neuen Kriegsführung sei, wobei Massenmedien ebenso benutzt werden wie Computernetze und das Internet. Der Autor hebt hervor, dass in der Nato über das Konzept des Informationskriegs eher Konfusion herrscht, während die Russen da angeblich weiter seien und Informationskrieg, PsyOps, Beeinflussungsoperationen, Strategische Kommunikation, Computernetzwerk-Operationen oder Militärische Täuschung (MILDEC) nicht unterschiedlich definieren, sondern unter dem Begriff des Informationskriegs verbunden hätten.

"Cyber" werde im russischen Konzept nicht verwendet und auch nicht getrennt von anderen Ebenen betrachtet, so seien in ihm DDoS-Angriffe, Hacking als Ausbeutung von Sicherheitslücken oder RT-Fernsehen gleichermaßen Werkzeuge des Informationskriegs. So werde in Russland auch nicht von "Cyberkommando" wie in den USA gesprochen, statt vom Cyberspace spreche man vom "Informationsraum", der Computer und das menschliche Verarbeiten von Informationen umfasst. Information könne nach dem russischen Verständnis überall gespeichert sein und verbreitet werden, weswegen auch der Begriff der "Informationswaffe" breiter angelegt und nicht nur auf den Cyberspace bezogen sei. Ein russischer General wird zitiert, nach dem Informationswaffen auch in Friedenszeiten verwendet werden können, nach dem Autor eine "offensichtliche Asymmetrie zur Nato-Praxis".

Zuvor war allerdings von Stuxnet die Rede, der vermutlich von amerikanischen und israelischen Geheimdiensten entwickelt und gegen iranische Atomanlagen eingesetzt wurde, allerdings keineswegs nach einem erklärten Krieg. Um die Nato-Position zu belegen, zitiert der Autor hingegen den Chef der Strategischen Kommunikation von SHAPE, der erklärt, dass die Doktrinen der Nato-Staaten dem Militär vieles nicht erlauben würden, was die Russen machen, bevor nicht der Kampf grundsätzlich begonnen wurde. Das mag man glauben oder nicht, der Autor bleibt auch schuldig zu sagen, wann für die Nato "the fighting basically starts".

NATO must use various channels, including the traditional media, internet-based media and public engagement, to build awareness, understanding, and support for its decisions and operations. This requires a coherent institutional approach, coordination of effort with NATO nations and between all relevant actors, and consistency with agreed NATO policies, procedures and principles.

Nato Strategic Communications, wozu auch PsyOps gehört

"Russland sieht Europa als Beute …"

Russische Autoren, deren Gewicht für die Militärdoktrin nicht erwähnt wird, würden zwischen "Informationskonfrontationen" im Frieden und im Krieg unterscheiden, wird aber dann doch gesagt. Im Frieden ginge es um verdeckte Operationen, Spionage oder Vorteile im Informationsraum, im Krieg um die "Diskreditierung der Führerschaft, die Einschüchterung des Militärs und der Zivilisten, die Fälschung von Ereignissen, Desinformation, Hackerangriffe und so weiter", hauptsächlich um die "Beeinflussung der Führung und der öffentlichen Meinung ausländischer Staaten", woraus der Autor schließt, dass sich danach Russland "bereits im Kriegszustand sehen" müsste.

Der Autor betreibt in seinem von der Nato veröffentlichten "Handbuch" immer wieder ein Verwirrspiel. So muss er wieder darauf verweisen, als es um die Beeinflussung von ausländischen Parteien durch Russland geht, dass die russischen Autoren umgekehrt eigentlich Kampagnen beschreiben, die der Westen gegen Russland ausführt. Und er muss natürlich auch sagen, dass die Finanzierung von politischen Parteien und anderen Organisationen zur Verbreitung einer bestimmten Agenda "kaum als russische Erfindung bezeichnet" werden kann. Russland habe hier aber vom Westen gelernt, um aber gleich zu sagen, dass die Schwächung von konkurrierenden Gesellschaften ein russischer Ansatz sei, der weit über die Sowjetunion hinaus zurückgeht, wobei er einen Franzosen aus dem Jahr 1839 zitiert: "Russland sieht Europa als Beute …" Der Erkenntniswert des Handbuchs, das sich eher als antirussische Propagandaschrift des "Nato Defense College" erweist, geht so gegen Null.

Russland, so heißt es weiter, habe zur Abwehr der Informationsflüsse von außen, die Informationskontrolle im Inland verstärkt. Hier wird dann Klartext gesprochen, weil dies die strategische Kommunikation der Nato erschwere, die "russische Desinformation über die Rolle, das Wesen und die Aktivitäten in der russischen Bevölkerung zu kontern". Zudem erleichtere dies den russischen Medien, einseitige oder irreführende Nachrichten zu verbreiten. Damit würde die Bevölkerung "von dem wahren Bild der Außenwelt und in ihren eigenen Land" isoliert und die Vorstellung erleichtert, dass Russland von "einem aggressiven, expansionistischen Westen" bedroht sei. Daher werde der russische Staat unterstützt und würde die russische Führung ihre eigene Propaganda glauben.

So ist denn aus der Sicht der Nato, die gerade versucht, die russischen Desinformationskampagnen und den russischen Informationskrieg abzuwehren und die den Westen von der "russischen Aggression" bedroht sieht, nicht nur die russische Bevölkerung durch die Schließung des Informationsraums von der Wahrheit abgeschnitten, sondern auch die russische Regierung selbst, die irgendwie berauscht oder narkotisiert der eigenen Propaganda anheimfällt. Der Autor schließt ein Kapitel seines "Handbuchs" mit der bemerkenswerten Einsicht ab: "Die gefährlichste Folge dessen, dass die russische Führung an das glaubt, was sie ihren Untertanen erzählt, ist die Möglichkeit , dass sie dann auch aufgrund dieses Glaubens handelt." Ist das jetzt ein Narrativ im Sinne des Informationskriegs oder nur der Versuch eines Menschen, der von der Wahrheit der eigenen Weltsicht und der von ihm vertretenen Nato so überzeugt ist, sich zu erklären, warum überhaupt jemand eine andere Weltsicht haben kann als die eigene, von der man offensichtlich selbst betäubt ist.

Muss man am Schluss darauf hinweisen, dass die russische Regierung natürlich versucht, mittels staatlicher Medien wie RT oder Sputnik, auf die öffentliche Meinung einzuwirken und einseitige Wahrheiten zu verbreiten, oder mit anderen Mitteln, vielleicht auch mit der Weitergabe von gehackten Daten oder der Unterstützung von Organisationen, Parteien und Politikern im Ausland Vorteile zu erreichen? Oder dass der Kreml alles daran setzt, die Opposition klein zu halten, um einen Maidan oder einen Arabischen Frühling zu verhindern und das System stabil zu halten? Wahrscheinlich in diesen Zeiten schon, wenn man auf strategische Kommunikation, PsyOps oder Desinformation aus dem "Westen" hinweist. Bei all den Wahrheitspropagandisten auch in den Medien, die angeblich die Lügen und Fake News der anderen bloßlegen, fehlt es zunehmend an Aufklärung, also am Ausgang von der selbstverschuldeten Unmündigkeit.