Für eine demokratische Bahn

Zufriedene Reisende sind allenfalls ein Randaspekt im DB-Businessplan

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Bei der Bahn läuft vieles schief. Einige Problemzonen wurden in den vorangegangenen drei Teilen auf Telepolis skizziert, und bis auf einige wenige Bahn-Nerds. die meinen, man solle sich freuen, dass überhaupt etwas rollt, sind sich Rechercheure und Probanden einig: Vom fehlenden Filterkaffee bis zum fehlenden Zug gibt es eine direkte Verbindung.

Entsprechend fehlt es natürlich nicht an guten Ratschlägen: Hat der Fußball nur einige Millionen Co-Trainer auf den heimischen Sofas, weiß zur Bahn schlicht und ergreifend jeder etwas. Und in der Tat betrifft die Bahn auch viel mehr als Fußball und andere Gesellschaftsereignisse alle Bürger - nicht nur die Fans, die Interessierten, die Kunden. Züge sind laut, Bahntrassen können Menschen in den Wahnsinn treiben, insbesondere mit dem nächtlichen Güterverkehr. Die Bahn ist präsent, mit Bahnhöfen in bester Innenstadtlage, mit Schranken auf Bundesstraßen, aber auch mit ihrer riesigen LKW-Flotte, ihren Betriebsgeländen mitten im Nirgendwo.

Weil die Bahn aus verschiedensten Gründen alle Bürger etwas angeht, ist es mit den vielen Vorschlägen besonders schwer. Nicht nur, dass die meisten völlig unbeachtet bleiben; die wichtige Frage ist zunächst einmal, wie eine Deutsche Bahn AG überhaupt in die Demokratie passt.

Dass in einer AG zwar Vertreter der Mitarbeiterschaft im Aufsichtsrat sitzen, nicht aber eine Delegation der Kunden, wird man marktwirtschaftlich für logisch halten dürfen - bei der Bahn mit ihren öffentlichen Aufgaben, ihrer wachsenden Bedeutung und der entsprechenden Finanzierung aus Steuern hingegen ist das geradezu grotesk. Demokratietheoretisch bleibt nur eine mutige Konstruktion: von der Wahl einer Parteien und eines Wahlkreisabgeordneten über eine vom Parlament getragene Regierungsbildung hin zur Regierungspolitik, die intern vor allem zwischen Verkehrs-, Wirtschafts-, Finanz- und evtl. noch Umweltministerium abgestimmt werden muss und sich dann letztlich in der Besetzung des Aufsichtsrats der DB AG und der Berufung des Vorstands niederschlägt. In der Praxis wird man hingegen nicht von einem demokratischen Einfluss der Wähler sprechen können. (Viele Branchenkenner bezweifeln sogar einen nennenswerten Einfluss der Regierungsspitzen und sehen als Zentren der verkehrspolitischen Macht Konzernzentralen in Wolfsburg, Stuttgart und München.)

Die Bahn ist ein demokratischer Sanierungsfall - und könnte damit auch zum Experiment und Modell für viele andere Institutionen werden. Experten sind unabdingbar, um mögliche Wege aufzuzeigen - für Entscheidungen sind sie grundsätzlich weder qualifiziert noch legitimiert. Denn was diese Gesellschaft will, kann nur sie selbst entscheiden.

Bürgerbeirat für die Bahn

Ein geeigneter Weg zur Demokratisierung der Bahn könnte die Auslosung von Bürgern als Stellvertreter für alle sein. Dieses Verfahren, das aus dem antiken Griechenland stammt, findet aktuell erstaunlich viele Anhänger - weil mit einer solch ausgelosten Bürgerversammlung in Irland (=klein, konservativ, katholisch) eine Verfassungsänderung vorbereitet wurde, die das generelle Abtreibungsverbot aufgehoben hat. Auch ohne solche viel beachteten Entscheidungen spricht vieles für Methoden der sogenannten "aleatorischen Demokratie": richtig eingesetzt, kommen die per Los bestimmten Bürger in einem sehr strukturierten, inhaltlich aber völlig offenen Beratungsverfahren unter Berücksichtigung aller denkbaren bzw. artikulierten Positionen zu Konsensentscheidungen (ausführlich beschrieben im Buch "Demokratie für Deutschland").

In die Bahnpolitik mischen sich derzeit wie überall nur Lobbyisten ein, neben den beruflich aktiven Wirtschaftsgruppen etwa der winzige Verein "Fahrgastverband Pro Bahn", Naturschutzverbände oder Verbraucherorganisationen. Vorsitzender der auch finanziell gut ausgestatteten "Allianz pro Schiene" ist der Vorsitzende der größten Eisenbahngewerkschaft.

Normale Bürger kommen nicht vor. In einem ersten Schritt sollte daher ein ausgeloster Bürgerbeirat für die Bahn entstehen, der eine Einzelfrage nach der anderen bearbeitet und seine Empfehlungen präsentiert. Das wäre zunächst völlig unverbindlich und daher auch Stante pede machbar. Auch ohne jede formale Befugnis würde ein solches Demokratieinstrument enorme Bewegung in die Diskussion bringen, weil nicht mehr nur Profiteure des Bahnsystems ihre Forderungen einbringen würden (siehe dazu den Vorschlag eines Bürgerrats für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk).

Ein demokratisch ausgeloster Bürgerbeirat für die Bahn (oder ein anderes Verfahren zur Demokratisierung des Staatskonzerns) würde öffentliche Debatten über Reformen keineswegs überflüssig machen, im Gegenteil: Sie gewönnen gewaltig an Relevanz mit der Perspektive, die Bürger selbst dürften ihre Zukunft gestalten. Derzeit sind hingegen große Teile politischer Berichterstattung und öffentlicher Diskussionen bedeutungslos für das, was Legislative und vor allem Exekutive machen (und auch viele Bürger selbst rechnen ihren Gedanken keine reale Bedeutung bei und betreiben Diskussionen aus reinem Zeitvertreib, wie gerade Internetforen aller Art deutlich zeigen).

Probleme und Lösungen

Eine demokratische Beratung der Bahnprobleme wäre nicht nötig, wenn irgendjemand schon alle Patentlösungen ersonnen hätte, die ohne Wenn und Aber von den Bürgern angenommen würden. Deshalb sollen die nachfolgenden Stichworte auch nur die Problemskizze der vorangegangenen Beiträge ergänzen. Wie das ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung nach ausgiebiger Beratung sieht bleibt spannend.

1. Die Bahn muss ihre gesellschaftliche Rolle wahrnehmen. Dass dies die DB Aktiengesellschaft nicht von sich aus tut, hat sie hinlänglich bewiesen - vermutlich geht es auch gar nicht, u.a. angesichts des immer wieder von der Politik vorgegebenen Ziels der Wirtschaftlichkeit und Gewinnorientierung.

Für diese gesellschaftliche Rolle, für die Bahn als Beitrag zum Gemeinwohl, ist mehr und anderes nötig, als uns von Parteipolitikern präsentiert wird, die stets vor allem um Abgrenzung zur politischen Konkurrenz bemüht sind. Dabei braucht es für viele notwendige Veränderungen bei der Bahn "politische Weichenstellungen", wie Politiker sagen würden.

2. Die Aufgabe des Schienenpersonenverkehrs ist schlicht und ergreifend Mobilität der Bürger zu ermöglichen. Von diesem Mobilitätsbedürfnis her muss das gesamte Konstrukt vermutlich neu gedacht werden. Denn was wir haben, ist ein undurchschaubares Wirrwarr an Regelungen, Zuständigkeiten, Profitcentern. Vielleicht braucht es den ticketlosen, also in der Benutzung kostenlosen Nahverkehr, vielleicht braucht es für weitere Reisen ein simples Zuzahlungssystem, ohne Buchungen, ohne persönliche Daten, ohne riesigen Kontrollaufwand?

Mit dem (alten) Stichwort "Deutschland-Takt" geht die Politik wohl nicht ganz in die verkehrte Richtung, aber sie bleibt damit immer noch weit hinter den Möglichkeiten zurück. Erst 2030 soll es eine gute Vertaktung der Züge geben, bei der endlich Nah- und Fernverkehr zusammen betrachtet werden und die Infrastruktur am Fahrplan ausgerichtet wird statt umgekehrt.

3. Der öffentlicher Verkehr muss daher insgesamt betrachtet werden, nicht nach Zuständigkeiten ("Aufgabenträger"), nicht nach politischen Ressorts, nicht nach Firmen. Er betrifft Städte- und Raumplanung, Forschung an autonomen Fahrzeugen, soziale Transferleistungen und vieles mehr.

4. Wenn wir über die DB sprechen, dürfen wir uns mit gutem Recht auf den Verkehr in Deutschland und seine Verknüpfung mit den Nachbarländern beschränken. Dass der Konzern heute in 130 Ländern aktiv ist und 40 Prozent seiner Beschäftigten im Ausland hat, mag nett oder irrsinnig sein - mit der öffentlichen Aufgabe der Bahn hat es jedenfalls nichts zu tun.

5. Bahnhöfe müssen als öffentlicher Raum verstanden und entsprechend bewirtschaftet bzw. belebt werden. Dass sie als Privateigentum eines Konzerns gelten, ist inakzeptabel. Gleiches gilt für alle nicht von der Bahn für den originären Bahnbetrieb benötigte Infrastruktur. Bisher hat die DB schon hunderte Gebäude verfallen lassen, anstatt sie der Gesellschaft zurück zu geben.

6. Die Liste der Serviceprobleme ist lang und bekannt. Gerade weil sich die DB oft gar nicht zuständig fühlt, wie etwa beim immer noch auf weiten Strecken katastrophalen Mobilfunknetz, muss die Untätigkeit demokratisch behoben werden. In der Tat hat die Bahn mit einigen Problemen zu kämpfen, die sie nicht selbst geschaffen hat, etwa den unglaublich bürokratischen Anforderungen für die Zulassung neuer Züge. Doch was aussieht wie ein Schwarzer-Peter-Spiel zwischen DB, Eisenbahnbundesamt, Verkehrsministerien und EU ist in Wahrheit doch nur ein staatliches Hütchenspiel.

7. Weniger bekannt sind die Defizite im Umweltschutz, oder besser: beim Bemühen, mit der Bahn die Umwelt weniger als bisher zu belasten. So stammt bisher nur etwa die Hälfte des Bahnstroms aus regenerativen Quellen, die 100% will die Bahn erst im Jahr 2050 erreichen. Das viel diskutierte Herbizid Glyphosat wird von der Bahn neben Flazasulfuron und Flumioxazin in großen Mengen eingesetzt - 93% der Gleise werden laut Bahn mit den Giften besprüht. Die große dieselbetriebene LKW-Flotte, Betonverbrauch, Einwegverpackungen und vieles mehr sind Umweltthemen, die bei der Bahn bearbeitet werden müssen, auch wenn sie in der öffentlichen Diskussion wenig präsent sind.

8. Die Bahn und ihre politischen Vorgesetzten müssen an ihrer Kommunikation arbeiten. Trotz aller externer Beratung und Dienstleistung mieft es überall noch nach Behörde, nach Obrigkeit, nach Dienstvorschriften und Spaßbremsen. Beispielhaft sei aus dem aktuellen Geschäftsbericht ein einziger Satz zitiert, der für das gesamte "Desaster Deutsche Bahn AG" steht, wie es das "Bündnis Bahn für Alle" nennt: "Die positive Entwicklungen aus der Umsetzung von Maßnahmen in sechs Maßnahmenbündeln (WLAN und Handyempfang, Sauberkeit Platz und WC, Temperatur, Zugbegleitpersonal, Preiswahrnehmung sowie IC 1) wurde weitgehend durch die Entwicklung der Pünktlichkeit kompensiert."

Ein anderes Beispiel: Seit Jahren bereitete Marcus Grahnert in seiner Freizeit Daten der DB auf und bietet auf seiner Seite Fernbahn.de zu sämtlichen Fernzügen die exakten Wagenreihungen an, inzwischen sogar mit Datenbankabfrage. Von der Bahn, die diesen Services selbst nicht anbietet, hat er nach eigenen Angaben für sein Engagement nicht ein einziges Dankeswort gehört. Auch dies ist symptomatisch für eine Bahn, die sich eben nicht als Dienstleister für die Gesellschaft versteht, sondern als ein Königshof.

Entsprechend schmallippig ist die Bahn daher stets, wenn es um Probleme geht - selbst Unfallopfern gegenüber zeigt sie sich behördlich kalt. Bekennt sich hingegen mal ein Bahnvertreter zu hauseigenen Problemen wie der Vorstandsvorsitzende Richard Lutz im September 2018, wird dies ernsthaft und öffentlich als Beschädigung des Unternehmens betrachtet.

Hausordnungen, Formbriefe zu Reklamationen, das Auftreten vieler Schaffner und Stewards, das Konzept einer "3-S-Zentrale" oder das Schönreden eklatanter Probleme - auch kommunikativ liegt bei der Bahn vieles im Argen.

In einem Bürgerbeirat könnten die Bahn-Verantwortlichen schon mal üben, auf Augenhöhe mit anderen Bürgern zu sprechen. Denn dort wären sie nicht Hausherren, Gastgeber oder Veranstaltungschef, sondern schlicht und ergreifend Referenten, die zu ihrer Sicht der Dinge befragt werden, die von der Richtigkeit ihres Handelns oder ihrer Vorhaben überzeugen dürfen - die aber darüber nicht zu entscheiden haben.