Libanon: Der nächste Krisen-Hotspot

Beirut. Bild: Michal Gadek/Unsplash

Die Inflation bei Lebensmitteln lag im vergangenen Jahr bei schwindelerregenden 402 Prozent. Wie kann der Westen helfen, ohne die Dinge, wie so oft, noch schlimmer zu machen?

Ein Land im Absturz: Der Libanon wird nun von zwei UN-Organisationen als eins der Länder geführt, dem eine ernsthafte Hungerkrise bevorsteht. Im aktuellen Bericht über weltweite Hunger Hotspots, verfasst vom Welternährungsprogramm der UN (WFP) und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), zählt der Libanon - im Gegensatz zu seinem Nachbarland Syrien - noch nicht zu den akuten Brennpunkten einer Hungerkrise, ist aber auf dem Weg dahin, einer zu werden.

Im Augenblicksbild nach Zahlen sieht der Kollaps so aus:

Infolge der Finanzkrise, die das Land im Herbst 2019 traf, hat die libanesische Währung mehr als 80 Prozent ihres Wertes verloren, was zu einem Anstieg der Inflationsrate um 146 Prozent im Vergleich zum Vorjahr führte, wobei die Inflation bei Lebensmitteln bei schwindelerregenden 402 Prozent lag. Ende 2020 berichteten 19 Prozent der libanesischen Staatsangehörigen und 21 Prozent der syrischen Flüchtlinge über den Verlust ihrer Haupteinkommensquellen aufgrund der kombinierten Auswirkungen der Finanzkrise und der Covid-19-bedingten Einschränkungen. Infolgedessen erreichte der Anteil der syrischen Flüchtlinge, die in extremer Armut leben, Ende 2020 erschütternde 89 Prozent, gegenüber 55 Prozent nur ein Jahr zuvor.

FAO-WFP, Frühwarnungen zu akuten Ernährungsunsicherheit und Aussichten für März und Juni 2021

Die Weltbank zeigte vor ein paar Tagen an, dass die Lebensmittelpreise im Libanon die höchsten in der Region Mittlerer Osten/Nordafrika (Mena) seien und die Inflation "fast alle" Klassen im Land wirtschaftlich schwer erwischt. 2020 habe das Land etwa 18 Milliarden US-Dollar eingenommen und die Schulden auf 93 Milliarden US-Dollar angehäuft, berichtet die Deutsche Welle, wo man befürchtet, dass die Bankenkrise die ganze Region erfasst.

An dieser Stelle wurde mehrfach über die Finanzkrise im Libanon, die eine Dollar- und Bankenkrise ist, berichtet (Libanon: Hunger, Armut und keine Arbeit, Syrien und Libanon im Dollar-Schlamassel) wie auch über die Proteste, die von der Jugend geprägt waren, die um ihre Zukunft bangt ( Libanon: Proteste gegen Banken und die politische Elite).

Wer sich für eine sachkundige und klare Aufklärung zu den Hintergründen der epochalen Krise im Libanon interessiert, der sei, wenn sie oder er des Englischen mächtig ist, auf den Podcast verwiesen, in dem der US-syrische Finanzexperte mit dem Twitternamen Ehsani2 die Wurzeln der Krise und die Verwicklungen verständlich darlegt. Wichtig ist es schon, den Hintergrund der Wirtschaftskrise zu verstehen, denn er stellt nur einen, wenn auch sehr wesentlichen, Teil der Krise dar, die den Libanon zum nächsten Pulverfass im Nahen Osten machen kann (es wäre nicht das erste Mal).

Das Pulverfass...

Die Nähe zu Israel, zum Konfliktzentrum Syrien, die Millionen von syrischen Flüchtlingen, die Jugendarbeitslosigkeit, die Aussichtslosigkeit im Land, die komplizierten politischen Verhältnisse, in denen die Hisbollah eine wichtige politische Rolle spielt wie auch Saudi-Arabien, die geopolitischen Interessen von Regionalmächten wie Iran, der Türkei, aber auch der USA, Russlands sowie Chinas im Hintergrund, sind Stichworte genug, um einen Schimmer davon zu vermitteln, dass auch Europa nicht von der libanesischen Wirklichkeit abgeschottet ist.

... und die Kriseninterventionen

Dass der französische Präsident Macron mit seiner Krisenintervention nach der gewaltigen Explosion im Sommer letzten Jahres im Hafen von Beirut keinen Erfolg hatte, spricht Bände über die Schwierigkeit der Lage - und besonders über die Haltung eines europäischen Staatschefs ("er hat der politischen Klasse in Beirut die Leviten gelesen").

Leicht kann man von Macron behaupten, dass er gerne mehr verspricht, als er dann auch halten kann, und dass er zu überheblich, "frankozentrisch", an sein Vorhaben herangegangen ist, um mit einer von ihm gewünschten Regierungsbildung an einem Ausweg zu bauen. Aber Frankreich hat immerhin als ehemalige Mandatsmacht für das heutige Syrien und den Libanon eine gewisse politische Erfahrung in der Region (anders als etwa die deutschen Besserwisser) und es hat traditionelle Verbindungen, auf denen heutige Netzwerke aufbauen.

Das Scheitern der Mission Macron soll hier erwähnt werden, um zu bedenken zu geben, dass der Möglichkeitsraum der EU, im Libanon für bessere Verhältnisse zu sorgen, begrenzt ist, umso mehr wenn man mit standardisierten politischen Ordnungsvorstellungen agiert.

"Unter Fahnen" versammeln

Die Zeichen stehen dafür, dass diese Art der sich benevolent verstehenden, von kategorischen politischen Imperativen ("Weg mit der Hisbollah", "Raus mit iranischem Einfluss", "Weghalten des russischen Einflusses", "Schwächen der Konkurrenz aus China") bestimmten Politik geprägten westlichen Hilfsmissionen künftig zunehmen und sei es aus Angst vor neuen Flüchtlingsströmen, mit der man europäische Länder "unter die Fahne" bringen kann. Die andauernde Regierungskrise im Libanon öffnet Möglichkeiten für Einflüsse und Interessen von außen.

Geht es nach einem Hintergrundlagebericht des belgischen Journalisten Elijah J. Magnier, so sehen die Interessen der USA, der Golfstaaten und Israels so aus, dass sie den Präsidenten Michel Aoun und mit ihm "seinen Verbündeten Hisbollah" fallen sehen wollen und dafür auch in Kauf nehmen, dass das Land am Abgrund steht und kollabiert. Diese Player würden dem auch aktiv nachhelfen, so der Vorwurf Magniers, den er mit einigen Beispielen untermauert.

Magnier ist parteiisch, er macht aus seiner Sympathie für die Gegner Israels, "die Achse des Widerstands" kein Hehl, dabei scheut er keine Mythen, so pflegte auch er das heiligschön gefärbte Bild des iranischen Generals Soleimani, der wie ein braver Hirte über die Häupter braver Kinderlein streichelt - als Chef der Revolutionären Garden…

Aber Magnier ist gut vernetzt, hat, wie er in vielen journalistischen Beiträgen zeigte, guten Zugang zu Quellen, die in der üblichen Berichterstattung ausgeklammert werden. Man kann ihn ignorieren, aber auch als parteiischen Journalisten lesen, von dem manches berichtet wird, das objektiv zum Gesamtbild gehört. Und das sieht im Libanon nach einer kritischen Aufladung aus.