Rüstungsspirale 2025: Wiederholen wir die Fehler von 1914?

Soldaten in einem Eisenbahnwagon, der u.a. mit "Auf in den Kampf, mir juckt die Säbelspitze" beschriftet ist"

Deutsche Soldaten 1914 auf dem Weg zur Front. Bild: Public Domain

Vor 110 Jahren trieb eine Rüstungsspirale Europa in den Ersten Weltkrieg. Der Westen handelt heute erneut, "bevor Russland zu stark wird". Ein Essay.

Sebastian Haffner wies bereits in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts darauf hin, dass es recht unterschiedliche Deutungen des Kriegsanfangs und -verlaufs in Bezug auf den Ersten Weltkrieg gäbe.1:

Die alten Legenden sind nicht tot, von der ‚Einkreisung‘ bis zum ‚Dolchstoß‘. Die Älteren reiben sich heute wie je an der ‚Kriegsschuldlüge‘ wund, bestreiten die Niederlage (die ja auch nicht leicht zu begreifen war, nach so vielen Siegen) und hadern mit dem Schicksal. Die Jüngeren wissen nichts und wollen nichts wissen. Sie finden, schon der zweite Weltkrieg gehe sie nichts mehr an; und nun gar der Erste! Für sie ist es eine ferne Sage.

Und doch finden sich in der historischen Rekonstruktion der unmittelbaren Vorkriegsereignisse des Ersten Weltkriegs Abläufe, die möglicherweise Ähnlichkeiten mit aktuellen Mobilisierungsprozessen haben.

Die Rolle der Presse im Vorfeld

Den kaum siebenjährigen Sebastian Haffner trifft der Ausbruch des Ersten Weltkriegs, mit dem sein "bewusstes Leben wie mit einem Paukenschlag einsetzt" in den Sommerferien 1914. Schlagwörter aus der Zeitung, von seinem Vater vorgelesen, bleiben haften: "Ultimatum", "Mobilmachung", "Allianz", "die Entente", "Order".2 Das Massenmedium Zeitung verstärkt und bestärkt Existenzängste – von Kindern wie Erwachsenen.

Bereits im Vorfeld offiziellen Regierungshandelns wird die Bevölkerung auf ein "Je eher desto besser", auf ein "Es wird zurückgeschossen" medial vorbereitet. Nicht nur das Zusammenspiel von Staat und Wirtschaft, Überrüstung, imperiale Machtinteressen, die massenhafte Verpflichtung zum Militärdienst bereiten auf einen Krieg vor, sondern auch der Presse kommt eine maßgebliche Funktion bei der geistigen Mobilmachung – freilich auch bei der internationalen Verständigung – zu; Verfeindung wie Versöhnung von Staaten können Medien befeuern.

Schwach blieben vor 1914 jene gesellschaftlichen Kräfte, die auf internationalen Ausgleich, Diplomatie, rechtlich bindende Regelungen zur schiedsgerichtlichen Streitschlichtung zwischen Staaten drängten.

Vor dem Ersten Weltkrieg verstärkten oder bestärkten die dominierenden Printmedien die Kriegsplanungen ihrer Regierungen. Insbesondere das zaristische Russland, ohne Zweifel einer der reaktionärsten Unterdrückerstaaten Europas, wurde als potenzieller Angreifer des Deutschen Reiches aufgebaut.

General von Moltke übersandte im Februar 1914 dem Auswärtigen Amt eine Denkschrift über die Kriegsbereitschaft Russlands. Es habe nach der ersten Russischen Revolution erheblich aufgerüstet, sei finanziell erstarkt, habe seine Armee reformiert und sei 1916 voll kriegsfähig.

Wichtige Leitmedien hauten, angestachelt durch interessierte Regierungs- und Wirtschaftskreise, in diese Kerbe, forderten einen Präventivkrieg gegen den mächtiger werdenden östlichen Nachbarn, diskutierten offen über die Notwendigkeit einer kriegerischen Lösung.

Dabei taten sich besonders u.a. die "Kölnische Zeitung" und die "Germania" hervor. Die Öffentlichkeit wurde medial auf die Notwendigkeit verstärkter militärischer Ausgaben vorbereitet, rassistische Einstellungen – der Kampf des Germanentums gegen das Slaventum – wurden geschürt. Der Hamburger Historiker Fritz Fischer hat dies bereits vor über 50 Jahren eindrucksvoll analysiert.3

Sommer 1914 – günstig für einen präventiven Krieg

Der Historiker David Fromkin konnte in einer genauen Rekonstruktion der Ereignisse in den Monaten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs nachweisen, dass im Kontext eines imperialistischen Rüstungswettlaufs zwischen den mächtigsten Staaten deutsche und österreichische Militärs (von Moltke, von Falkenhayn, von Hötzendorf) in Zusammenarbeit mit bellizistischen Regierungsmitgliedern (von Bethmann Hollweg, Graf von Berchtold), zur Überzeugung gelangten, dass der Sommer 1914 der geeignetste Zeitpunkt für einen präemptiven Krieg gegen Russland sei.

Ein Krieg mit Russland sei unvermeidlich, weil es in wenigen Jahren aufgrund umfassender Aufrüstungsmaßnahmen zu mächtig werde, wollte man es im Kampf um die geopolitische Vorherrschaft noch besiegen können.

Das Attentat von Sarajewo war der willkommene Vorwand für die Auslösung eines großen Krieges. Vermittlungsversuche und Gesprächsangebote internationaler Akteure wurden von Deutschland und Österreich-Ungarn zurückgewiesen. Sie wollten einen Krieg provozieren, ihren Gegner Russland dauerhaft schwächen.4 "Besser jetzt als später!" Von einer "Politik des kalkulierten Risikos" schließlich zur Rechtfertigung "Not kennt kein Gebot!".5

Die Militärführungen beider Staaten waren überzeugt, dass ein erfolgreicher lang andauernder Volkskrieg nur zu führen sei, wenn sie nicht nur die gesellschaftlichen Eliten von der Notwendigkeit eines Krieges überzeugen könnten, sondern die gesamte Bevölkerung. Der Eindruck musste durch mediale Verstärkung erzeugt werden, Russland habe Deutschland den Krieg aufgezwungen. So wurde die russische Mobilmachung in den Leitmedien bewertet und dann auch am 1.8.1914 die Lüge vonseiten der deutschen Regierung verbreitet, dass russische Truppen auf deutsches Territorium vorgedrungen seien.6

Der Krieg schien zugleich die Chance zu bieten, das durch soziale innenpolitische Spannungen gebeutelte "pseudokonstitutionelle semiabsolutistische Kaiserreich"7 zu stabilisieren, den Krieg also als Krisenlösung für innere Konflikte zu nutzen8, allerdings enthielt der Krieg zugleich auch das für die Eliten gefährliche Potential einer Revolution.

Von wegen schlafwandelnd in den Krieg! Von wegen unbewusst in einen Krieg getaumelt!9 Dass die Bevölkerung, infiziert von imperialistischen, nationalistischen, militaristischen Ideen, auf Lügen, Irreführungen, Erzeugen von Bedrohungsängsten hereingefallen war, wurde vielen erst in und nach blutigen Schlachten bewusst.

Kriegstüchtig statt friedensfähig

Der Überfall der Russischen Föderation am 24.2.2022 auf die Ukraine hat zu kaum vorstellbaren Zerstörungen, zu massenhaftem Tod, zu Not, Verelendung, Flucht und Vertreibung, extremer Rüstung, innenpolitischen, außenpolitischen, ökonomischen, ökologischen Verwerfungen nicht nur in den unmittelbar kriegsbeteiligten Ländern geführt.

Auch die politischen und ökonomischen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland wurden aufs Spiel gesetzt. Frühe Versuche von versprengten Pazifisten zur Entgiftung der Beziehungen und Forderungen nach diplomatischer Verständigung wurden beiseitegeschoben. Die Beteuerung, allein die Ukraine dürfe über einen Friedensschluss entscheiden, nahm der Bundesregierung wie anderen westlichen Unterstützerstaaten die Option auf eine Einflussnahme beim Friedensprozess.

Das rächt sich jetzt. US-Präsident Donald Trump schickt sich an, mit Wladimir Putin einen Deal über den Frieden für die Ukraine ohne Beteiligung der EU-Staaten und ohne direkte Einbeziehung der Ukraine auszuhandeln.

Die Vertreter der Exekutive spielen sich zu wahren Friedensfreunden auf nach der Sentenz Ciceros: "Si vis pacem para bellum". In aktueller Übersetzung unseres derzeitigen Verteidigungsministers: Deutschland müsse sich an den Gedanken gewöhnen, dass die Gefahr eines Krieges in Europa drohen könnte. Deshalb müsse sich auf den Krieg vorbereitet und die Bundeswehr "kriegstüchtig" werden.

In der Phase der von Bundeskanzler Olaf Scholz ausgerufenen Zeitenwende hat Pazifisten-Bashing Hochkonjunktur. Der Publizist und Blogger Sascha Lobo z.B. nennt jene "Lumpenpazifisten", die zur Besonnenheit jenseits rein militärischen Kalküls während des Angriffskrieges Russlands gegen die Ukraine mahnen.

Der Politologe Herfried Münkler warnt vor einem "Unterwerfungspazifismus". Jene, die diplomatische Bemühungen zur Kriegsbeendigung neben militärischer Verteidigung einfordern und gegenüber rein militärisch-strategischem Denken Skepsis äußern, werden als Putinisten oder gar "Secondhand-Kriegsverbrecher" (so der links-rechts-gewirkte Krawallbarde Wolf Biermann) diffamiert, ebenso jene, die, ohne den russischen Angriffskrieg damit zu legitimieren, auf Fehlentscheidungen des Westens vor dem Überfall Russlands auf die Krim und schließlich auf die Ukraine hinweisen.10

In der westlichen Berichterstattung wird nach den Ursachen des Konflikts in der Regel nicht gefragt. In den Medien kommen in der Regel nur die zu Wort, die als sog. Militärexperten 2022 von den Fortschritten der ukrainischen Armee schwadronieren, einen baldigen Sieg der Ukraine über Russland prognostizieren, die der Notwendigkeit einer schnellen und robusten Aufrüstung das Wort reden, die eine Mobilisierung der Bevölkerung fordern, mit "Wehrhaftigkeit" Aufrüstung, Waffenexporte, Sanktionspolitik kaschieren, mit Drohungen den Zugang der Politik zur Diplomatie verbauen, Antimilitarismus zur Drückebergerei herabwürdigen, gigantische Aufrüstungsmaßnahmen der Nato mit der Invasionsfähigkeit und der gleichzeitig unterstellten Invasionsabsicht Russlands propagieren.

Vergleichende Analysen zeigen indes, dass Russland der Nato – auch sogar den europäischen Nato-Staaten – militärisch weit unterlegen ist.11 In drei bis acht Jahren sei Russland in der Lage, Nato-Territorium anzugreifen – so warnen u.a. Verteidigungsminister Boris Pistorius und BND-Chef Bruno Kahl und liefern damit für die Öffentlichkeit die Grundlage für eine massive Aufrüstung.

Hierbei wird des Weiteren unterschlagen, dass das Bruttoinlandsprodukt Russlands die Größe des BIP Italiens hat und einer vielfach überlegenen europäischen Ökonomie gegenüber steht. Auch wird dabei davon ausgegangen, dass die Streitkräfte der USA aus dem Nato-Verband ausscheren, was – trotz der irrlichternden Unbeständigkeit des amtierenden US-Präsidenten – doch eher unwahrscheinlich ist.

Es sind die gleichen Stimmen aus Staat, Wirtschaft, Parteien, Presse, welche die Öffentlichkeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg vernahm: Sollte man jetzt nicht robust handeln, werde es in ein paar Jahren wieder zu spät sein. Russland könne dann den Westen angreifen. Die Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz handelte noch relativ besonnen hinsichtlich einer militärischen Unterstützung der Ukraine, ohne den Bündnisfall für die Nato zu riskieren.

Nun folgt eine derzeit im Entstehen begriffene schwarz-rote Koalition, die sich schon vor ihrer Vereidigung vom Parlament die Zustimmung für ein gigantisches und auf Schulden basiertes Aufrüstungsprogramm hat geben lassen. Auch hier wird mit der – überhaupt nicht beweisbaren und aufgrund eines Vergleichs der militärischen und ökonomischen Potenziale eher unwahrscheinlichen – zukünftigen russischen Aggression auf weitere europäische Staaten und auch auf Deutschland Angst erzeugt. Mit Angst wird Politik gemacht und eine riesige und sogar unbegrenzte Steigerung der Rüstungsausgaben ermöglicht.

Der Politikwissenschaftler Johannes Varwick bringt die Gefährlichkeit dieser Entwicklung auf den Punkt12:

Das notwendige Maß an Sicherheitsvorsorge ist gewiss nicht einfach zu bestimmen. Aber ein Zuviel bedeutet in manchen Fällen nicht nur eine Vergeudung von Ressourcen, sondern mitunter gar eine Erhöhung von Risiken und damit Unsicherheit. Wer mithin überzieht, der kann Sicherheit in sein Gegenteil verkehren. Aufrüstung ist klassischer Weise der Beginn einer Rüstungsspirale, die ohne politische Begleitung keine Sicherheit bringt.

Fazit

Der völkerrechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine hat zur medial verstärkten Ausrufung einer Kriegsgefahr für ganz Europa und für überbordende Rüstungsinvestitionen geführt.

Trumps Drohung, Putin zu ermuntern, europäische Staaten anzugreifen, wenn sie ihre Verteidigungshaushalte nicht genügend hochfahren würden, ist ebenfalls ein Hintergrund der von EU und auch Deutschland vorgesehenen massiven Steigerung der Rüstungsausgaben. Dahinter steckt sicherlich auch das Interesse, dass Europa seine Waffen in den USA einkaufen wird. In diesem Sinne handelt es sich hier um eine Art Schutzgelderpressung vonseiten des US-Präsidenten.

Es stellt sich jedoch die Frage, ob Europa nicht seine gesellschaftliche Zukunftsfähigkeit verspielt, wenn Hunderte von Milliarden Euro in den nächsten Jahren in die Produktion von Waffen investiert werden. An Stelle der unproduktiven und destruktiven Verschleuderung gesellschaftlicher Ressourcen sollte in einem längeren transparenten Diskurs eine genaue Risikoanalyse hinsichtlich ökologischer, ökonomischer, politischer und militärischer Gefahren vorgenommen werden. Erst aufgrund einer derartigen Gefährdungsanalyse sind die europäischen (und auch deutschen) Zukunftsmilliarden zu investieren.

Jeder sollte sich die Millionen Opfer und das unsägliche Leid der Weltkriege sowie deren verhängnisvolle Folgen für die weitere internationale Entwicklung vergegenwärtigen, wenn es möglicherweise wieder soweit ist, dass Gesellschaften mit der Beschwörung eines übersteigerten Feindbildes in die erneute Rüstungseskalation und in eine zukünftige militärische Auseinandersetzung getrieben werden sollen.

Wenn Ausgaben für die Verteidigungsfähigkeit Europas mit Augenmaß und im Sinne von militärischen Synergieeffekten investiert werden, dann sollten diese Maßnahmen mit gleicher Intensität mit einem diplomatischen Angebot für die zukünftige gesamteuropäische Zusammenarbeit – auch unter Einschluss Russlands sowie der Ukraine – begleitet werden.

Auch wenn Russland seit mehr als drei Jahren gegen das Völkerrecht verstößt und einen Krieg gegen sein Nachbarland begonnen hat: Frieden wird es in Europa nicht gegen, sondern nur mit Russland geben.

Reinhold Lütgemeier-Davin, Dr. phil., Historiker, Autor zahlreicher Veröffentlichungen zum organisierten Pazifismus, zu Rüstungs- und Abrüstungsfragen nach 1918, zum Widerstand gegen den Nationalsozialismus, zu politischen Biographien

Klaus Moegling, Dr. habil., Politikwissenschaftler, Lehrerbildner, zuletzt auf einer apl. Professur an der Universität Kassel, Autor des frei lesbaren Buches "Neuordnung. Eine friedliche und nachhaltig entwickelte Welt ist (noch) möglich".