Russlands Krieg gegen die Ukraine und der Westen: Eskalationsspirale dreht auf Hochtouren

Konferenz russischer Militärs. Bild: @mod_russia
Russlands Angriffskrieg ist völkerrechtswidrig und durch nichts zu rechtfertigen. Ihm liegt zugleich auch eine westliche Blaupause zugrunde. Gorbatschows "Gemeinsames Haus Europa" liegt in Trümmern
Der Schock sitzt tief.
Zwei Tage brauchte ich, um aus der Paralyse herauszukommen. Noch Anfang Dezember hatte ich fest ausgeschlossen, dass Russland die Ukraine angreift. Mit einem Grundgedanken stand ich nicht allein: Man mag von Putin halten, was man will, aber der russische Präsident ist kein Hasardeur.
Als kühl kalkulierender Machtmensch würde er sehr genau Kosten und Nutzen abwägen. Und er wisse ja: Mit einem Angriff auf die Ukraine könne er sich nur eine blutige Nase holen – ganz abgesehen von den politischen und wirtschaftlichen Folgen einer weltweiten Isolation seines Landes.
Den monatelangen Truppenaufmarsch um die Ukraine, die Manöver in Belarus, all das hatte ich als Drohkulisse im Kontext der beiden Briefe an die USA und Nato interpretiert, in denen Russland unmissverständlich seine Sicherheitsinteressen und die daraus folgenden roten Linien formulierte.
Das Äußerste, was ich mir hatte vorstellen können, war eine verdeckte oder gar offene militärische Unterstützung der Rebellenrepubliken im Donbass für den Fall, dass Kiew versuchen sollte, diese mit Gewalt zurückzuerobern.
Putins Anerkennung der Rebellenrepubliken Donezk und Luhansk in ihren ursprünglichen Oblastgrenzen – und nicht etwa bis zur aktuellen Demarkationslinie – zwei Tage vor dem Überfall hatte mich zwar misstrauisch gestimmt, aber damit hatte es sich.
Nun wissen wir alle es besser – will sagen: Wir sind bis auf die Knochen desillusioniert! Und der Scherbenhaufen türmt sich zum Himmel.
Wie peinlich, wie erbärmlich, wie jämmerlich, dass ausgerechnet CIA und Bild-Zeitung, denen wir spätestens seit der Brutkastenlüge und den angeblichen Massenvernichtungsmitteln im Irak kein Wort mehr geglaubt hatten, dieses Mal recht behalten haben. Auch, wenn die definitive Entscheidung zum Krieg angesichts der starren Haltung des Westens möglicherweise in letzter Minute gefallen sein mag.
Putins Angriff auf die Ukraine treibt nicht zuletzt jenen Menschen die Zornesröte ins Gesicht, die sich jahre-, gar jahrzehntelang für ein besseres Verhältnis zu Russland eingesetzt haben!
Den Donbass in Lwiw und Odessa verteidigen
Das Szenario ist bekannt: Wieder mal hatte jemand um Hilfe gerufen. Die auch prompt gnädig gewährt wurde.
Und zwar im Übermaß. Ost-Berlin 1953, Budapest 1956 und Prag 1968 lassen grüßen! Aber so weit wie Russland jetzt war selbst die Sowjetunion bei allen drei Interventionen nicht gegangen. Diese beschränkten sich im Wesentlichen auf einen Einmarsch der Panzer in die Hauptstädte der betroffenen Länder, worauf die Besatzer ihre Ordnung gegen den Willen der Bevölkerung durchsetzten.
Nun aber wird tagelang die militärische Infrastruktur eines ganzen Landes systematisch beschossen und vernichtet. Parallel dazu wird die Ukraine durch einfallende Truppenverbände aus Norden, Osten und Süden in die Zange genommen.
Und alles angeblich zur Verteidigung der beiden Rebellenrepubliken im östlichen Donbass. Dafür werden jetzt das rund 1.200 Kilometer von Donezk entfernt liegende Lwiw in Galizien und die 850 Kilometer von Luhansk entfernte Schwarzmeerstadt Odessa beschossen.
Jawohl, Kiew hat bereits im April 2014 Panzer gegen die abtrünnigen Gebiete im Donbass – will sagen: gegen das eigene Volk – aufgefahren. Es hat eine Millionenstadt wie Donezk unter Beschuss genommen. Der dortige Flughafen liegt in Trümmern, die Bevölkerung dies- und jenseits der Demarkationslinie durchleidet die Kriegswirren nun schon fast acht Jahre.
Die Kämpfe zwischen Kiewer Zentralmacht – Seite an Seite mit rechtsextremen Freikorps, wie dem berüchtigten ultranationalistischen Regiment Asow – und den von Russland verdeckt unterstützten Volkswehren kosteten bislang 14.000 Menschen das Leben. Die meisten von ihnen Zivilisten, und zwar auf Seiten der Rebellengebiete.
Ohne, dass in den vergangenen Jahren im Westen jemand, wie unsere Außenministerin letzten Freitag, gerufen hätte: "Herr Poroschenko, Herr Selenski, Sie sind dafür verantwortlich, dass unschuldige Menschen in der Ostukraine sterben!"
Aber das rechtfertigt in keiner Weise einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg – denn darum handelt es sich hier – Russlands gegen die Ukraine.
Russlands "Kosovo-Krieg", Putins "humanitäre Intervention"
Es gibt allerdings auch noch eine weitere Blaupause für das Szenario – und die ist für den Westen alles andere als angenehm.
Ende der Neunzigerjahre des vorigen Jahrhunderts kämpfte eine Volksgruppe in einem europäischen Land für die Abspaltung ihres Gebietes aus dem Staatsverband. Die Zentralmacht schickte Polizeikräfte und Militär, es kam zu jahrelangen offenen und verdeckten blutigen Kämpfen zwischen Separatisten und Staatsmacht.
Schließlich griff eine Atommacht zusammen mit ihrem Militärbündnis ohne völkerrechtliches Mandat – die juristische Legitimation, genannt "humanitäre Intervention", hatte sie sich auf die Schnelle selbst gestrickt – zugunsten der Separatisten ein und bombardierte dreieinhalb Monate lang mit höchst fragwürdigen Begründungen strategische Ziele, aber auch die Hauptstadt und weitere Städte des Staatsverbands, bis die Regierung schließlich kapitulierte.
Um die 3.000 Zivilisten der Zentralmacht starben. "Kollateralschaden" nannten das die bewaffneten humanitären Interventionisten. Neun Jahre später erklärte sich die "befreite" Region für unabhängig – und wurde postwendend von den selbstlosen Befreiern als Staat anerkannt.
Es handelte sich um den Kosovo, der sich unter tatkräftiger Hilfe durch USA und Nato von Jugoslawien abgespalten hatte.
Ist der völkerrechtswidrige Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine nun legitimiert, weil der Westen 23 Jahre zuvor mit seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien die Blaupause dafür geliefert hatte? – Nein. Ebenso wenig, wie ein Dienstagsmord durch einen Montagsmord gerechtfertigt wird!
Aber Putin hat gelernt. Und zwar vom Westen. Nicht zuletzt in Sachen "Regime Change", den er in der Ukraine unter dem Etikett "Entnazifizierung" offensichtlich anstrebt.
Verloren jedoch haben alle!
Nun zeigt die Geopolitik wieder ihre hässliche Fratze. Und Wladimir Putin hat sich de facto als George Friedmans Gehilfe bei der endgültigen Zementierung der neuen Teilung Europas erwiesen. Bei dem, privaten Nachrichtendienst Stratfor und anderen US-amerikanischen Thinktanks werden jetzt die Sektkorken knallen.
Es ist die Stunde der Eskalierer, der kalten und heißen Krieger auf allen Seiten. Und der Sieg der Rüstungsindustrie. 100 Milliarden Euro mehr für die Bundeswehr schüttelte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Sonntag mal locker aus dem Ärmel. Der neue deutsche Schulterschluss kennt (fast) keine Parteien mehr, er kennt (fast) nur noch Deutsche.
Michail Gorbatschows abrüstungspolitisches Erbe dagegen, seine Politik des Neuen Denkens und seine Vision vom "Gemeinsamen Haus Europa" liegen in Trümmern.
Er wird am Mittwoch 91 Jahre alt und man wagt nicht, sich vorzustellen, wie es angesichts dieser Katastrophe in ihm aussehen mag.
Die Welt wird es bitter bereuen!
Denjenigen aber hüben und drüben, die sich jahre-, jahrzehntelang für ein gutes Verhältnis zwischen Russen und Deutschen einsetzten, die sich für Deeskalation engagierten und auch jetzt noch, scheinbar gegen alle Vernunft, eine neue Entspannungspolitik und Gorbatschows "Gemeinsames Europäisches Haus" anstreben, in dem Russen, Ukrainer, Deutsche etc. kurz: alle Europäer gleichberechtigt und nach dem Prinzip der "unteilbaren Sicherheit" (Charta von Paris) ihren Platz haben – all denjenigen, die nun ihren Mut zu verlieren drohen, bleibt es übrig, aus Liebe zu den Menschen unseres aufs Neue blutig zerrissenen Kontinents die zynische Maxime des Philosophen Günther Anders zu befolgen:
"Wenn ich verzweifelt bin, was geht’s mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht!"
Wenn ich verzweifelt bin, was geht‘s mich an! Machen wir weiter, als wären wir es nicht!