Ukraine-Russland-Friedensverhandlungen: ARD-Faktenfinder mit Fehlern, Auslassungen und Ungenauigkeiten

War ein Waffenstillstand in Reichweite? Worüber wurde verhandelt? Der ARD-Faktenfinder prüft und hat selbst eine Faktenprüfung nötig.

Wie weit gediehen die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine im Frühjahr 2022? Der ARD-Faktenfinder präsentiert Ende April im Titel bereits das eindeutige Ergebnis:

"Waffenstillstand war nicht kurz vor dem Abschluss."

Leserinnen und Leser, die auf Telepolis eine Reihe von Artikeln zu dem Thema gelesen haben, dürften von dieser Aussage überrascht sein.

Ein erstaunliches Ergebnis

Das Ergebnis ist insbesondere erstaunlich, wenn man als Referenz heranzieht, was die Politikwissenschaftler Samuel Charap und Sergei Radchenko in ihrer Studie "The Talks That Could Have Ended the War in Ukraine", veröffentlicht in der US-Publikation Foreign Affairs zum Stand der Friedensverhandlungen in Istanbul im März und April 2022 herausgefunden haben.

Ihre Arbeit erschien am 16. April und sorgte für mediale Aufmerksamkeit. Charap und Radchenko haben die Gründe für das Scheitern im Detail untersucht. Dazu haben sie die beiden letzten Vertragsentwürfe analysiert und eine Reihe von Verhandlungsteilnehmern interviewt – und gelangten zu einem ganz anderen Ergebnis:

Trotz erheblicher Meinungsverschiedenheiten deutet der Entwurf vom 15. April darauf hin, dass der Vertrag innerhalb von zwei Wochen unterzeichnet werden würde.

Samuel Charap und Sergei Radchenko

Die Presseanfrage von Telepolis, ob der ARD-Faktenfinder die obige Studie berücksichtigt habe, blieb unbeantwortet.

Verhandlungen kurz vor Abschluss oder ausgehandelt?

In seinem Bericht schreibt der ARD-Faktenfinder:

Die These: Es habe einen bereits ausgehandelten Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine gegeben – und zwar bereits im April 2022.

Das irritiert ebenfalls, da die These, der die Überschrift widerspricht, eine andere ist: Nämlich, dass Verhandlungen "kurz vor dem Abschluss" gewesen seien.

Dem Autor dieser Zeilen sind allerdings keine Aussagen bekannt, die behaupten würden, der Waffenstillstand sei bereits ausgehandelt gewesen. Es habe also nur noch die Unterschrift gefehlt.

Erstes Gegenargument des Faktenfinders:

Nicht nur Teilnehmer der ukrainischen Verhandlungsdelegation haben dieser Version bereits längst widersprochen, auch Experten weisen das aus mehreren Gründen zurück.

ARD-Faktenfinder

An dieser Stelle wäre man dankbar für Belege der Aussage, Teilnehmer der ukrainischen Verhandlungsdelegation hätten dieser Aussage widersprochen, aber entsprechende Zitate sucht man vergeblich.

Charap und Radchenko, die mit einer Reihe von Verhandlungsteilnehmern gesprochen haben, zitieren hingegen den ukrainischen Verhandler Oleksandr Chalyi mit der Aussage:

Wir waren Mitte April 2022 sehr nahe daran, den Krieg mit einer Friedensregelung zu beenden.

Oleksandr Chalyi

Welche Experten?

Auch Experten im Plural, die aus verschiedenen Gründen die These zurückweisen, sucht man beim Faktenfinder leider vergebens, denn er zitiert nur wiederholt einen Experten: Nico Lange, Ukraine- und Russlandexperte bei der Münchener Sicherheitskonferenz.

Die Presseanfrage von Telepolis, warum der Faktenfinder-Beitrag, augenscheinlich nur auf Einschätzungen eines einzigen Experten beruht, blieb unbeantwortet.

Nico Langes zentrale Aussage lautet:

Der entscheidende Punkt ist, dass es zwar Verhandlungsgespräche zwischen Russland und der Ukraine gab. Ein fertig verhandeltes Abkommen gab es aber nie.

Wie zuvor erwähnt: Der Titel des Artikels suggeriert eine Widerlegung der Behauptung, die Verhandlungen hätten kurz vor Abschluss gestanden, nicht, dass es ein fertig ausgehandeltes Abkommen gegeben habe.

Die Presseanfrage von Telepolis, ob Nico Lange den Vertragsentwurf, der der Zeitung Die Welt vorliegt, lesen konnte, also tatsächlich das konkrete Dokument kennen konnte, über das er sprechen sollte, blieb unbeantwortet.

Wie eingangs erwähnt, kommt die Studie von Charap und Radchenko zu einem komplett anderen Ergebnis.

Konzessionen und offene Diskussion

Im weiteren Verlauf des Artikels beschreibt der ARD-Faktenfinder die Konzessionen, um die es in den Verhandlungen in Istanbul ging:

So sollte die Ukraine eine verbindliche Neutralitätserklärung unterzeichnen und damit jegliche Bestrebungen eines Nato-Beitritts aufgeben, wie aus einem Dokument, das der "Welt" vorliegt, hervorgeht.

Demnach beinhaltete das Dokument unter anderem den Unterpunkt, dass die Ukraine auf den Erhalt, die Produktion und den Erwerb von Atomwaffen verzichte und auch keine ausländischen Waffen und Truppen im Land erlauben dürfe.

Die ukrainischen Unterhändler zeigten sich dem Wall Street Journal nach zudem bereit, die Frage nach der von Russland völkerrechtswidrig annektierten Halbinsel Krim zumindest einzufrieren.

ARD-Faktenfinder

Russische Konzessionen unerwähnt

Was man vollständig vermisst, was bei Charap und Radchenko eine zentrale Rolle spielt: die Konzessionen, zu denen auch Russland bereit war. In deren Analyse heißt es:

Putin und Selenskyj überraschten alle mit ihrer gegenseitigen Bereitschaft, weitreichende Zugeständnisse zur Beendigung des Krieges in Betracht zu ziehen.

Samuel Charap und Sergei Radchenko, Foreign Affairs

Eine mögliche Konzession, die Charap und Radchenko erwähnen, betraf den Status der Krim:

Das Kommuniqué enthält noch eine weitere Bestimmung, die im Nachhinein verblüffend ist: Es fordert die beiden Seiten auf, sich in den nächsten zehn bis 15 Jahren um eine friedliche Beilegung ihres Streits über die Krim zu bemühen.

Seit Russland die Halbinsel 2014 annektiert hat, hat sich Moskau nie bereit erklärt, über ihren Status zu diskutieren, und behauptet, sie sei eine Region Russlands, die sich nicht von anderen unterscheidet. Mit seinem Angebot, über den Status zu verhandeln, hat der Kreml stillschweigend zugegeben, dass dies nicht der Fall ist.

Samuel Charap und Sergei Radchenko, Foreign Affairs

Die Welt, die ebenfalls den letzten Vertragsentwurf vorliegen hat, betont hingegen:

Die ursprüngliche ukrainische Forderung, der ein Passus im Istanbul-Kommuniqué gewidmet wurde, dass der Status der Krim innerhalb der nächsten zehn bis 15 Jahre in Verhandlungen zu klären sei, fand sich im Vertragsentwurf nicht wieder.

Die Welt

Unumstritten ist auf jeden Fall, dass Russland zu einer wichtigen Konzession bereit war und damit eine bisherige rote Linie aufgeben wollte: Im Hinblick auf die Ukraine sollten die Garantiestaaten (einschließlich Russland) ausdrücklich "ihre Absicht bestätigen, die Mitgliedschaft der Ukraine in der Europäischen Union zu erleichtern", wie es im Vertragsentwurf hieß.

Für Charap und Radchenko war dies "war nichts weniger als außergewöhnlich".

Im Artikel des ARD-Faktenfinders findet man jedoch kein Wort zu den vorgesehenen russischen Konzessionen. Die Presseanfrage, warum der Artikel nicht auch russische Konzessionen erwähnt, blieb unbeantwortet.

Das Datum

Der Entwurf, den Putin in die Kamera gehalten hat, war zudem auf den 15. April datiert. Die letzte Verhandlungsrunde war jedoch die in Istanbul am 29. März. "Ein fertig verhandeltes Abkommen, dem beide Seiten zugestimmt hätten, gab es nach dem letzten Treffen in Istanbul nicht", sagt Lange. Zwar blieben die Delegationen in Kontakt, eine weitere Verhandlungsrunde gab es danach jedoch nicht mehr.

ARD-Faktenfinder

Der Artikel von Charap und Radchenko spricht explizit von Vertragsentwürfen, die vom 12. und 15. April stammen. Daher kann Putin durchaus den Entwurf des 15. April in die Kamera gehalten haben. Die Aussage des Faktenfinders ist somit zwar nicht falsch, da es kein ausgehandelter Vertrag war, sondern wohl der letzte Entwurf, aber es fehlt etwas.

Die Anfrage, warum der Artikel nicht erwähnt, dass Putin den Vertragsentwurf vom 15. April zeigt, blieb unbeantwortet.

Die Gräuel von Butscha

Als einen zentralen Grund, weshalb es nicht zu einer Vertragsunterzeichnung kam, führt der ARD-Faktenfinder an:

"(...) die Gräueltaten von Butscha, die die russische Armee im Kiewer Vorort verübt hatten und die Anfang April ans Licht kamen. Mehr als 450 Zivilisten hatten die russischen Besatzer innerhalb kurzer Zeit getötet. Für die ukrainische Regierung waren weitere Verhandlungen ab dem Zeitpunkt ausgeschlossen, es sei denn, Russland hätte seine Truppen vollständig vom gesamten Staatsgebiet der Ukraine abgezogen".

So menschlich verständlich es gewesen wäre, nach dem Bekanntwerden des Massakers von Butscha die Verhandlungen in Istanbul zu beenden, so bemerkenswert ist, dass dies in Wirklichkeit nicht der Fall war. Der Faktenfinder liegt hier eindeutig falsch.

Charap und Radchenko betonen:

Die Arbeit am Vertragsentwurf hinter den Kulissen wurde in den Tagen und Wochen nach der Aufdeckung der russischen Kriegsverbrechen fortgesetzt und sogar intensiviert, was darauf hindeutet, dass die Gräueltaten von Butscha und Irpin bei der Entscheidungsfindung in Kiew eine untergeordnete Rolle spielten.

Samuel Charap und Sergei Radchenko

Daher existieren auch die beiden letzten Vertragsentwürfe vom 12 und 15. April. Die Anfrage im Hinblick auf diesen offensichtlichen Fehler, blieb unbeantwortet.

Das Veto-Recht

Der Artikel des Faktenfinders führt einen zweiten zentralen Grund an, weshalb der Vertragsentwurf nicht unterzeichnet worden ist:

Zum einen forderte die russische Delegation, dass im Angriffsfall alle Garantiestaaten zur Aktivierung des Beistandsmechanismus zustimmen müssen – somit auch Russland selbst.

Russland hätte dadurch diese Beistandsklausel verhindern können, wodurch die Ukraine quasi machtlos gewesen wäre bei einem Angriff. "Bei einem russischen Angriff hätte Russland dann die Sicherheitsgarantien ablehnen können, das ist natürlich Quatsch", so Lange.

ARD-Faktenfinder

Charap und Radchenko haben hierzu die Details:

Während das Kommuniqué und der Entwurf vom 12. April klarstellten, dass die Garantiestaaten unabhängig voneinander entscheiden würden, ob sie Kiew im Falle eines Angriffs auf die Ukraine zu Hilfe kämen, versuchten die Russen im Entwurf vom 15. April, diesen entscheidenden Artikel zu unterlaufen, indem sie darauf bestanden, dass eine solche Aktion nur "auf der Grundlage eines von allen Garantiestaaten vereinbarten Beschlusses" erfolgen würde – was dem wahrscheinlichen Angreifer, Russland, ein Veto einräumte.

Einem Vermerk auf dem Text zufolge lehnten die Ukrainer diese Änderung ab und bestanden auf der ursprünglichen Formulierung, nach der alle Garantiegeber einzeln zum Handeln verpflichtet sind und sich nicht erst einigen müssen, bevor sie handeln.

Samuel Charap und Sergei Radchenko, Foreign Affairs

Dieser Punkt stand demnach am 15. April weiterhin zur Debatte.

Offene Punkte

Der Faktenfinder führt weiter aus:

Insgesamt hält Lange die ganzen Diskussionen um die Verhandlungen über einen Waffenstillstand für überzogen. "Hätte die Ukraine diesem russischen Entwurf zugestimmt, wäre sie dem nächsten russischen Angriff schutzlos ausgeliefert gewesen."

Nur weil die Ukraine gesprächsbereit gewesen sei, hieße das nicht, dass sie die Positionen der anderen Seite auch akzeptiert hätte.

ARD-Faktenfinder

An dieser Stelle unterlässt es der Faktenfinder, auf einen fundamentalen Punkt in der Diskussion hinzuweisen. Denn es war geplant, noch zwei Wochen an den Vertragsentwürfen weiterzuarbeiten. Der Artikel in der Welt, den der ARD-Faktenfinder-Bericht an anderer Stelle anführt, schreibt explizit:

Aus Artikel 18 des Vertragsentwurfs geht hervor, dass die Verhandler damals davon ausgingen, dass die beiden Staatschefs das Dokument noch im April 2022 unterzeichnen würden.

Die Welt

Die Frage, warum der Artikel des Faktenfinders mit keinem Wort erwähnt, dass die offenen Punkte wie die russische Forderung nach einem Veto auf einem Treffen zwischen Selenskyj und Putin entschieden werden sollten, blieb unbeantwortet.

In Anbetracht der so weit bekannten Faktenlage lässt sich die eindeutige Aussage des ARD-Faktenfinders "Waffenstillstand war nicht kurz vor dem Abschluss" nicht halten.

In der Untersuchung dieses so heiklen und wichtigen Themas finden sich für einen Artikel, der den Anspruch erhebt "gezielt Falschmeldungen richtig" zu stellen, leider zu viele Ungenauigkeiten, Auslassungen und Fehler.