Vorsichtige Distanzierung von Russland

Kasachstans Präsident Qassym-Schomart Tokajew geht auf vorsichtige Distanz zu Putin. Foto: Пресс-служба Президента РФ / CC-BY-4.0
Kasachstan versucht, Vorteile aus dem russisch-westlichen Wirtschaftskrieg zu ziehen. Moskau ist auf den Verbündeten angewiesen und macht gute Miene dazu.
Kasachstan gehört neben Belarus traditionell zu den engsten Verbündeten Russlands. Das Land ist wichtiges Mitglied in russisch dominierten Organisationen wie der Eurasischen Wirtschaftsunion oder der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit. Als es nach dem Jahreswechsel Unruhen in Kasachstan gab, waren russische Truppen zur Stütze der Regierung zur Stelle.
Verstimmungen im Wirtschaftsbereich
Doch in jüngster Zeit hakt es dennoch in der russisch-kasachischen Partnerschaft. Aufgrund von sachlich umstrittenen kasachischen Umweltverstößen sperrte ein russisches Gericht Anfang Juli eine gemeinsame Ölpipeline, über die bisher 80 Prozent des Ölexports aus Kasachstans ins Ausland flossen.
Kasachstans Präsident Qassym-Schomart Tokajew reagierte prompt, indem er die zukünftige Lieferung kasachischen Öls unter Umgehung Russlands in Richtung Europa prüfen ließ, da man hier russisches Öl nicht mehr abzunehmen gedenkt und verzweifelt nach Alternativen sucht.
Nur eine Woche später wurde bekannt, dass Kasachstan plant, günstige Bedingungen für Unternehmen schaffen, die wegen der umfassenden Sanktionen Russland verlassen. Dabei handelt es sich mittlerweile insgesamt um 1.400 Firmen, die den russischen Markt verlassen oder alle Aktivitäten dort eingestellt haben.
Patriotische Russen schäumen wegen "Verrats"
Hierzu gab es durchaus böse Stimmen in Russland. Kasachstan wolle ein gutes Klima für Länder schaffen, die Russland gegenüber unfreundlich seien, schreibt etwa die russische Wirtschaftsjournalistin Anastasia Baschkalowa in der Nesawisimaja Gaseta.
Daneben biete es auch Russen eine neue Heimat, die seit Kriegsbeginn das Land verlassen wollen. Bereits 36.000 russische Staatsbürger seien seit Beginn der russischen "Spezialoperation" in der Ukraine nach Kasachstan umgezogen, das sind 16-mal so viele wie im Vorjahreszeitraum.
Professor Alexander Kobrinsky von der Agentur für Ethno-Nationale Strategien konstatiert in der gleichen Moskauer Zeitung, dass das russisch-kasachische Verhältnis aktuell schwere Zeiten durchmache und sieht die Schuld auf kasachischer Seite.
Einerseits ist es offensichtlich, dass Kasachstan aus der aktuellen Situation den größtmöglichen Nutzen für sich ziehen soll. Aber sind dafür wirklich alle Mittel in Bezug auf einen wichtigen Verbündeten gut? (…) Man gewinnt den Eindruck, dass die Sanktionen in den Augen Kasachstans nicht vom Westen, sondern vom Allmächtigen verhängt wurden.
Professor Alexander Kobrinsky in der Nesawisimaja Gaseta vom 10. Juli 2022
Gelassener als viele patriotisch-russische Kommentatoren des Geschehens gibt sich der Kreml. Putin-Sprecher Dmitri Peskow bezeichnete Kasachstans Angebote an Firmen, die aus Russland abwandern, als "völlig normal". Jedes Land versuche, für Investoren ein angenehmes Klima zu schaffen. Kasachstan könne so seine Warenproduktion steigern.
Der Kreml bleibt milde – weil er muss
Es gibt einen Grund für die aktuelle Milde Moskaus gegenüber dem wankelmütigen Verbündeten, der auch ansonsten, nicht anders als Belarus, in den Sanktionskrieg des Westens gegen Russland einbezogen werden will: Kasachstan wird dringend benötigt als Zwischenstation für sogenannte Parallelimporte, mit denen die Russen die Sanktionen gegen Warenlieferungen aus Europa oder Japan umgehen wollen.
Diese Grauimporte geschehen ohne Wissen des Herstellers, indem ein vorgeblicher kasachischer Kunde sanktionierte Ware ordert und diese dann nach Russland weiter verschickt.
Alle möglichen Arten von Markenprodukten sollen auf diese Weise trotz Handelskrieg weiter nach Russland kommen, so der Plan des Kreml. Nur eine gewisse Preissteigerung lässt sich dabei nicht vermeiden, denn der Zwischenhändler will auch verdienen.
Erst vor wenigen Tagen berichtete die russische Onlinezeitung lenta.ru von aktuellen Videospielen für die Sony-Playstation und PCs, die auf diese Weise wieder im Sortiment großer russischer Onlinehändler auftauchen. Auch Smartphones oder andere Hightechprodukte sollen so für den russischen Inlandsmarkt verfügbar bleiben.
Hier ist Russland viel mehr auf Kasachstan angewiesen als umgekehrt. Denn nicht befreundete Staaten sind zu solchen Grauimporten kaum bereit, da sie natürlich die sanktionierenden Staaten und Großkonzerne im Westen verärgern. Wenn man hier von Seiten Kasachstan schon dennoch mitspielt, so kann man sich nun auch gegenüber Moskau Freiheiten herausnehmen, scheint das Kalkül in der Hauptstadt Nur-Sultan zu sein.
Auch russische Fachleute begreifen die neue Lage
Deshalb erzürnen sich patriotische Experten in Russland wie Professor Kobrinsky. Er vermutet hinter dem neuen kasachischen Kurs dunkle Hintermänner aus dem angelsächsischen Raum und sieht dadurch schon einen Verlust von kasachischer Souveränität. Doch das Gegenteil ist der Fall. Durch die außenpolitische Schwächung Russlands ist Kasachstan eher souveräner geworden - aber eben dem vorher dominanten Moskau gegenüber.
Andere russische Fachleute haben das bereits begriffen, wie der Politoge Fjodor Lukjanow, der übrigens nicht zu den Kritikern des russischen Feldzugs in der Ukraine zählt, in einem Interview mit der Literaturnaja Gaseta:
Russland hat, ausgehend von seinen Zielen, die Militäraktion in der Ukraine gestartet, ohne seine Partner, Verbündeten und Nachbarn um Rat zu fragen. Obwohl sie spürbare Auswirkungen auf sie hat (…) Wir können von ihnen erwarten, dass sie sich nicht auf Seiten unserer Gegner stellen, aber nicht bei jedem Thema Solidarität mit unserer Position einfordern.
Fjodor Lukianow in der Literaturnaja Gaseta vom 13. Juli 2022
Im geopolitischen Machtspiel in Zentralasien wird Russland dennoch weiter eine wichtige Kraft bleiben. Doch die dortigen Staaten haben zunehmend Alternativen – etwa eine engere Zusammenarbeit mit China oder einen Ausbau von Wirtschaftsbeziehungen zum Westen. Und diese Möglichkeiten werden genutzt werden, wenn Moskau sich durch die Folgen seiner aggressiven Politik in weitere Abhängigkeiten von befreundeten Staaten begibt.
Ähnlich wie die Ukraine vor dem Euromaidan-Umsturz könnten solche Staaten in einer Schaukelpolitik den Vorteil nutzen, den eine nur noch lockerere Freundschaft mit Moskau bedeutet. Aus einer solchen folgt in jedem Fall nicht mehr, sich bei Sanktionskriegen durch zu viel Moskau-Treue mit in die Eskalationsspirale zu begeben.