Die X-Akten der Astronomie: Die rätselhaften Radiosignale aus dem Untergrund

Ein aufwändiges Experiment am Ende der Welt findet Hinweise auf seltsame Teilchen und die Theorien sprießen. Dann verblüfft ein Erklärungsversuch.

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Die X-Akten der Astronomie: Die rätselhaften Radiosignale aus dem Untergrund

Der Start von ANITA

(Bild: Brian Hill (University of Hawaii Manoa))

Lesezeit: 29 Min.
Von
  • Alderamin
Inhaltsverzeichnis

Dank immer besserer Technik, innovativen Ansätzen und internationaler Kooperation erlebt die Astronomie eine Blüte. Doch während viele Beobachtungen dabei helfen, Theorien zu verfeinern oder auszusortieren, gibt es auch immer wieder Entdeckungen, die einfach nicht zu passen scheinen. Mysteriöse Signale, mutmaßliche Verstöße gegen Naturgesetze und – noch – nicht zu erklärende Phänomene. In der Öffentlichkeit wird dann gerne darüber diskutiert, ob es sich um Spuren außerirdischer Intelligenz handelt, Wissenschaftler wissen, dass es am Ende fast immer eine natürliche Erklärung gibt. Aber überall wird die Fantasie angeregt.

In einer Artikelserie auf heise online werden wir in den kommenden Wochen einige solcher astronomischen Anomalien aus einer jüngst vorgestellten Sammlung vorstellen und erklären, warum alle Erklärungsversuche bislang an ihnen scheitern.

Die X-Akten der Astronomie

Die Kosmologie beschäftigt sich nicht nur mit den Tiefen des Raums. Kosmologie ist auch eng verknüpft mit der Teilchenphysik, insbesondere bei der Frage nach der Dunklen Materie, und die kann man auch auf Erden suchen. Vor zwei Jahren geisterten Meldungen durch die Presse, dass das Ballonexperiment ANITA in der Antarktis Spuren bisher unbekannter Teilchen gefunden haben könnte, die im Zusammenhang mit der Dunklen Materie stehen könnten. Erwartungsgemäß schossen danach die Hypothesen ins Kraut, was ANITAs Beobachtungen einen Eintrag in den Anomalien-Katalog des Breakthrough-Listen-Projekts bescherte. Kürzlich wurde nun eine sehr verblüffende These veröffentlicht, die alle zuvor geäußerten Hypothesen zur Makulatur machen könnte.

Warum können wir eigentlich auf einem Stuhl sitzen oder auf dem Boden stehen? Die Frage scheint absurd, aber ihre Antwort führt rasch in die Abgründe der Quantenphysik und sogar auf die Dunkle Materie. Weil wir aus Atomen bestehen, die wiederum aus Kernteilchen (elektrisch positiv geladenen Protonen und nach außen neutralen Neutronen) zusammengesetzt sind, welche von negativ geladenen Elektronen wie eine Wolke umringt werden. Zwar steckt in den Atomkernen 99,95 Prozent der Atommasse, aber sie sind hunderttausende Male kleiner als die Elektronenwolke. Die Elektronen selbst sind im Rahmen der von uns erreichbaren Messgenauigkeit punktförmig, dennoch verbietet die Quantenphysik, dass zwei Elektronen im gleichen Quantenzustand denselben Raum teilen, und das hält sie untereinander und auch die Atome insgesamt auf Abstand. Das Größenverhältnis zwischen den Kernteilchen und der Elektronenwolke entspricht etwa demjenigen eines Stecknadelkopfes zu einem Sportstadion. Atome sind also im Wesentlichen leerer Raum.

ANITA-Nutzlast mit ihren zahlreichen Antennen (weiße Trichter) vor dem 2. Start. Im Hintergrund der Ballon, der die Nutzlast in die Stratosphäre trägt.

(Bild: NASA, Goddard Space Flight Center, CC BY 2.0)

Die Abstände der Elektronen sind vergleichsweise groß, weil die elektrische Abstoßung gleicher Ladungen eine große Reichweite hat. Von den vier Grundkräften haben die elektromagnetische Wechselwirkung und die Gravitation unendliche Reichweiten, die starke und die schwache Wechselwirkung gewöhnlich hingegen nur Reichweiten von 10‑15 m (etwa Durchmesser eines Kernteilchens) bzw. 10‑18 m (ein Tausendstel eines Kernteilchens!). Auch Elektronen, Protonen und Neutronen können über die schwache Wechselwirkung interagieren, wenn ihnen nur ein Teilchen nahe genug kommt.

Wenn es nun ein Teilchen gäbe, das die elektromagnetische Kraft nicht spürte, dann wäre das Atom für dieses Teilchen tatsächlich ein großer leerer Raum, den es ungehindert durchfliegen könnte. Spürte es zumindest die schwache Wechselwirkung, dann bildete jedes Elektron und jedes Quark eines Atoms ein winziges Ziel in Bakteriengröße verteilt auf die Querschnittsfläche eines Sportstadions. Und die muss man erst einmal treffen.

Es gibt tatsächlich solche Teilchen, die Neutrinos. Sie entstehen zum Beispiel bei den Kernfusionsreaktionen im Inneren der Sonne in großer Zahl (solare Neutrinos). Da die Sonnenmaterie für sie so gut wie nicht vorhanden ist, entfliehen sie dem Sonneninneren fast mit Lichtgeschwindigkeit und ein kleiner Teil von ihnen erreicht nach 8 Minuten 20 Sekunden die Erde, die sie mitsamt ihren Bewohnern ebenso durchdringen, als wären diese nicht da. Träfe eine Gruppe solarer Neutrinos auf eine Bleiplatte von einem Lichtjahr Stärke – das sind immerhin 9.460.000.000.000 Kilometer –, dann würde am anderen Ende noch die Hälfte von ihnen herauskommen.

Entsprechend schwierig ist es, Neutrinos überhaupt nachzuweisen. Neutrinoobservatorien schaffen das mit riesigen unterirdischen Behältern, die meist mit Flüssigkeiten wie Argon oder Wasser oder Feststoffen wie Glas oder Eis gefüllt sind. Je größer das Volumen der Detektormedien, desto wahrscheinlicher können einzelne Neutrinos nachgewiesen werden. Sollte eines der Abermilliarden Neutrinos von der Sonne oder irgendeiner kosmischen Quelle, die pro Sekunde jeden Quadratzentimeter der Erde durchstoßen, nämlich doch zufällig einmal einem Kernteilchen oder einem Elektron nahe genug kommen, dass sie schwach wechselwirken, kann eine Reaktion ausgelöst werden.

Dabei wird oft ein Teilchen freigesetzt, das einen Lichtblitz oder eine Lichtspur im Detektormedium verursacht, die mit empfindlichen Fotosensoren registriert werden. Berühmt ist das IceCube-Experiment in der Antarktis, bei dem ein 1 Kubikkilometer großes Volumen antarktischen Eises mit Fotosensoren bestückt wurde, die durch kilometertiefe Bohrlöcher an Kabelsträngen ins Eis hinabgelassen wurden. Die Bohrlöcher wurden danach mit Wasser geflutet, so dass die Fotosensoren im Eis einfroren.

Physiker geben Teilchenenergien in Elektronenvolt an, damit sie nicht mit unpraktisch kleinen Zahlen hantieren müssen: 1 eV ist die Energie, die ein Elektron (oder ein anderes Teilchen mit einer Elementarladung, etwa ein Proton) aufnimmt, wenn es eine elektrische Spannung von einem Volt durchläuft. In Beschleunigern bringt man die Teilchen nämlich auf Touren, indem man sie immer wieder hohe Spannungen durchlaufen lässt. Als Energieeinheit kann man Elektronenvolt natürlich auch in Joules (oder die Old-School-Kalorien) umrechnen: 1 eV = 1,6 · 10-19 J. Teilchenmassen werden auch oft in eV angegeben, denn wegen E = mc² entspricht einer Masse m mal der Lichtgeschwindigkeit c zum Quadrat eine Energie E. Korrekterweise schreibt man die Masse dann als E/c², also soundsoviel eV/c², aber schreibfaule Physiker lassen das c² gerne weg, man weiß ja, was gemeint ist. Ich werde es der Klarheit zuliebe beibehalten.

Wirkungsquerschnitt für Neutrino-Interaktionen in Abhängigkeit von der Neutrino-Energie. Auf der x-Achse ist die Neutrinoenergie von 10-5 eV (10 µeV) bis zu 1018 eV (1 EeV) aufgetragen. Auf der y-Achse ist die das Neutrino umgebende Fläche aufgetragen, die ein Teilchen treffen muss, damit es zu einer Interaktion mit dem Neutrino kommen kann. Die Fläche ist angegeben in Millibarn (1/1000 Barn). Die unter Teilchenphysikern beliebte Einheit Barn ("Scheune" – weil diese Fläche Teilchenphysikern so groß wie ein Scheunentor erscheint) entspricht einer Querschnittsfläche von 10-28 m².

(Bild: Joseph A. Formaggio et al., arXiv)

Mit der Antarctic Impulsive Transient Antenna (ANITA) sucht man auf ganz andere Weise nach Neutrinos als in den klassischen Observatorien. Es ist das erste Gerät zur Suche nach Neutrinos extrem hoher Energien von 1018 bis 1021 Elektronenvolt (eV), oder kürzer mit Präfixen geschrieben 1 Exa-Elektronenvolt (EeV) bis 1 Zetta-Elektronenvolt (ZeV). 1 ZeV sind 160 Joule, das ist in der Größenordnung der Bewegungsenergie eines mit 190 km/h aufgeschlagenen Tennisballs oder eines mit knapp 100 km/h getretenen Fußballs – konzentriert in einem einzigen Elementarteilchen! Teilchen mit solchen Energien sollen etwa bei der Kollision von Partikeln der kosmischen Strahlung (wie Protonen, Neutronen und Heliumkerne) mit Photonen entstehen und wurden auch schon beobachtet.

Interessanterweise schaffen die energiereichsten Teilchen der kosmischen Strahlung mit mehr als 10 EeV ("Ultra High Energy Cosmic Rays", UHECR) es nicht, große Entfernungen von mehreren 10 Millionen Lichtjahren zurück zu legen, weil sie mit den Photonen der kosmischen Hintergrundstrahlung kollidieren und dabei eben jene ultrahochenergetischen (UHE) Neutrinos erzeugen, nach denen ANITA sucht. Die UHE-Neutrinos bewegen sich ungehindert geradlinig weiter und verraten, woher die UHECR-Teilchen stammen. Diese werden zum Beispiel in den Jets aktiver Galaxienkerne erzeugt, die natürliche Beschleuniger von Lichtjahr-Abmessungen bilden.

UHE-Neutrinos sind nun wegen ihrer Energien bis 1 ZeV um einiges reaktionsfreudiger als die solaren Neutrinos mit ihren ~106 eV. Ihr sogenannter "Wirkungsquerschnitt", das ist der Bereich um das Teilchen, innerhalb dessen es mit anderen Teilchen interagieren kann, ist Milliardenmal größer als bei den solaren Neutrinos. Nach dem Standardmodell der Elementarteilchenphysik werden die Grundkräfte durch virtuelle (nur vorübergehend aus dem Vakuum entstehende) Teilchen vermittelt, die zwischen den wechselwirkenden Teilchen ausgetauscht werden. Die Austauschteilchen (Bosonen) der Schwachen Wechselwirkung sind die drei W+/W-- und Z0-Bosonen, die anders als das Photon – das Boson des Elektromagnetismus – eine Ruhemasse haben, und die ist ziemlich groß: 80 Protonenmassen für W±, 90 für Z0.

Je höher die Teilchenenergie des Neutrinos, umso wahrscheinlicher kann es die virtuellen Bosonen aus dem Vakuum produzieren und somit nimmt die Reichweite der Schwachen Wechselwirkung mit der Teilchenenergie zu. Quasi als ob ein LKW anstelle eines Fahrrads an einem vorbeifährt, der entsprechend mehr Fahrtwind verursacht. UHE-Neutrinos schaffen es wegen ihres riesigen Wirkungsquerschnitts (siehe Bild) deshalb nicht mehr, die Erde zu durchstoßen. Das ist auch experimentell nachgewiesen: Neutrinoobservatorien messen mit zunehmender Teilchenenergie eine Abnahme der Ereignisse, die von Teilchen stammen, welche die Erde durchkreuzt haben, während Teilchen aus anderen Richtungen diese Abnahme nicht zeigen.

Im Mittel schaffen Teilchen von 1 EeV (1018 eV) es noch durch ein paar hundert Kilometer Wasser. Entsprechend häufig reagieren sie mit Eis. Sie müssen dazu nicht immer erst hunderte Kilometer Eis durchdringen, sondern statistisch gesehen haben stets einige das "Pech", schon nach wenigen Kilometern mit einem Atomkern zu kollidieren. Beim sogenannten "Askaryan-Effekt" produzieren sie Sekundärteilchen, die sich mit dem ursprünglichen Impuls des Neutrinos mit Überlichtgeschwindigkeit durch das Eis fortbewegen. Das "Über-" bezieht sich auf die Lichtgeschwindigkeit im Medium, die stets kleiner als die Vakuumlichtgeschwindigkeit ist – nur letztere kann nach der Relativitätstheorie nicht überschritten werden.

Wenn sich das Medium polarisieren lässt, das Teilchen also im Vorbeiflug die Ausrichtung der Ladungen der Moleküle im Medium beim Durchfliegen kurzzeitig verändert (ein sogenanntes Dielektrikum), werden durch die Schwingungen der Moleküle elektromagnetische Wellen ausgesendet, und zwar aufgrund des überlichtschnellen Fortschreitens der Quelle als Stoßfront, vergleichbar mit einem Überschallknall (Tscherenkow-Strahlung). Darunter sind Radiowellen und Mikrowellen, die das Eis durchdringen können. Geeignete dielektrische Medien sind etwa Sand, Wasser, Luft – und Eis!

ANITA sucht nach Neutrinos mithilfe des Askaryan-Effekts. Hierbei löst ein hochenergetisches Neutrino ν eine Kaskade elektrisch geladener Teilchen im kilometerdicken Eis aus, die sich mit mehr als der Ausbreitungsgeschwindigkeit von Licht im Eis bewegen. Diese ist mit knapp 229.000 km/s deutlich kleiner als die Vakuumlichtgeschwindigkeit von 299792 km/s, welche gemäß der Relativitätstheorie nicht überschritten werden kann – diejenige im Eis hingegen schon. Dabei wird sogenannte Tscherenkow-Strahlung in einem bestimmten Öffnungswinkel kegelförmig abgestrahlt (Cherenkov Cone), die eine Art Überschallknall für Licht bildet. Sie enthält neben Licht auch Mikrowellen- und Radiostrahlung, die das Eis bis zur Oberfläche durchdringen kann und dort in die Horizontale abgelenkt (gebrochen) wird. Solche Impulse werden von den ANITA-Antennen dann aufgespürt.

(Bild: University of Hawai’i at Mānoa, Department of Physics, Antarctic Implusive Transient Antenna)

ANITA ist ein großer Radio-Richtempfänger, der in der Antarktis auf bis zu 37 Kilometer Höhe aufsteigt und während mehrwöchiger Missionen von dort aus den Boden nach kurzen Radiopulsen von Askaryan-Ereignissen ablauscht. Die Antarktis wurde für das Experiment ausgewählt, weil sie nicht nur jede Menge Detektormedium in Form von Eis bereitstellt und derjenige Ort auf der Erdoberfläche ist, der sich am weitesten entfernt von störenden irdischen Sendern befindet, sondern auch, weil der bis in die Stratosphäre kreisende antarktische Polarwirbel den Ballon über dem Kontinent festhält. Am Ende des Fluges trennt man den Empfänger vom Ballon, er landet am Fallschirm im Eis und kann dann mit einem Hubschrauber aufgelesen werden; oder vielmehr das, was noch von ihm übrig ist – so richtig gut sieht er danach nämlich nicht mehr aus. Bisher fanden denn auch nur vier jeweils etwa einmonatige Flüge statt: Dezember bis Januar 2006/07, Dezember bis Januar 2008/09, Dezember bis Januar 2014/15 und Dezember bis Januar 2016/17.

Nicht nur Neutrinos verursachen Radiowellen, sondern auch Teilchen der kosmischen Strahlung, die beim Einschlag in die Atmosphäre Teilchenschauer erzeugen. Diese Teilchen erzeugen im Magnetfeld der Erde ebenfalls Radiopulse. ANITA misst die Richtung, aus der die Signale eintreffen, horcht allerdings auf der Suche nach Neutrinosignalen aus dem Eis nur seitwärts und nach unten. Radiowellen, die von kosmischen Strahlen stammen, kommen zunächst einmal von oben. Die Radiowellen werden jedoch am Boden reflektiert und kommen dann wie die echten Neutrinosignale von unten in den Sichtbereich von ANITA. Neutrino- und kosmische Strahlung lassen sich jedoch leicht unterscheiden, denn Funkwellen, die an Eis reflektiert werden, tun einen Phasensprung um 180° in der horizontalen Polarisationsrichtung, wie das nächste Bild zeigt.

Radiopulse von vier Teilchenschauern, die ANITA bei ihrer dritten Mission registriert hat. Bild A zeigt ein von unten kommendes, nicht reflektiertes Signal (35° unter der Horizontalen). Bei ihm fehlt, genau wie bei den aus der Horizontalen empfangenen Signalen B und C (5,5° und 3,6° unter dem Horizont) der Phasensprung, der eine Reflexion am Boden kennzeichnet. Bild D zeigt so eine Reflexion aus einer ähnlichen Richtung wie der Puls in Bild A. Man sieht, dass die blaue Kurve der horizontalen Polarisation bei D umgedreht zu A, B und C erscheint.

(Bild: P.W. Gorham et al., arXiv)

Hier sind vier verschiedene Pulse dargestellt. B und C kamen von seitlich knapp unterhalb der Waagerechten (-5,5° und -3,6°), während A und D von unten (35° und 36,7°) kamen. Man erkennt den umgekehrten Verlauf der Signalamplitude für die horizontale Polarisation nur bei D. Folglich wurde dieses Signal am Boden reflektiert, A hingegen nicht.

Für die tatsächlich aus dem Eis stammenden Signale der Hochenergie-Neutrinos kann unter Berücksichtigung des Empfangswinkels, der Höhe des Ballons und der Brechung der Radiowellen beim Verlassen des Eises zurückgerechnet werden, aus welcher Richtung das Teilchen ursprünglich kam. Das Ursprungsteilchen in Bild A vom dritten ANITA-Flug kam am 20. Dezember 2014 demnach in einem Winkel von ursprünglich 55,5° zur Senkrechten von unten und hatte eine Energie von 0,56±0,3 EeV, wie seine Entdeckerinnen und Entdecker in ihrer Arbeit (Peter W. Gorham, Ben Rotter et al.) im März 2018 berichteten.

Wer bis hierhin aufgepasst hat, sollte sich jetzt am Kopf kratzen und fragen, wie das möglich sein kann – das Teilchen müsste demnach ja durch die Erde gedrungen sein, was für UHE-Neutrinos doch vermeintlich unmöglich sein soll. In der Tat bedeutet dieser Winkel eine Strecke von etwa 7200 Kilometer durch die Erde hindurch, was 18 Mal der durchschnittlichen Strecke entspricht, die ein solches Neutrino theoretisch hätte schaffen sollen. Möglich wäre, dass ein Tau-Neutrino bei einer Kollision mit einem Atom ein Tau-Teilchen (ein instabiler Verwandter des Elektrons, allerdings 3500 Mal schwerer) erzeugt hat, das beim Zerfall ein neues Tau-Neutrino mit ca. 10-fach kleinerer Energie produziert hat, welches dann ein Stück weiter geflogen ist; ein Prozess, der sich möglicherweise mehrfach wiederholte.

Aber diese Tau-Neutrino-Regeneration hätte die Zahl von UHE-Neutrinos über 1 EeV immer noch um den Faktor 100.000 verringert. So häufig sind Neutrinos dieser hohen Energie nicht zu erwarten, als dass eines davon mit realistischer Wahrscheinlichkeit im Blickfeld von ANITA während nur eines Monats Beobachtungszeit hätte auftauchen sollen. Zudem fand sich ein zweites Ereignis in den Daten des ersten Flugs am 28. Dezember 2006. Es hatte die gleiche Energie (0,6±0,4 EeV) und muss 5750 Kilometer Erde durchstoßen haben. Gorham et al. schreiben, mit sporadischen Neutrinos sei das nicht zu erklären. Es müsse eine aktive Quelle sehr viele Hochenergie-Neutrinos in Richtung Erde abgefeuert haben, damit das eine oder andere durchkommen konnte.

Mögliche Quellen wären Gammastrahlenschauer, wie sie bei Hypernovae oder kollidierenden Neutronensternen entstehen, oder eine Supernova. Gammastrahlenschauer werden von mehreren Satelliten in Echtzeit überwacht, aber es fand sich kein passendes Ereignis. Circa 1,2° entfernt vom errechneten Ort der Quelle und damit innerhalb des Fehlerradius von 1,5° für die Lokalisation fanden Gorham et al. für den betreffenden Zeitpunkt die Typ-Ia-Supernova SN2014dz in 240 Millionen Lichtjahren Entfernung verzeichnet, die 5 Stunden vor dem Ereignis entdeckt worden war und sich zu dieser Zeit noch eine Woche vor dem Helligkeitsmaximum befand.

Die Wahrscheinlichkeit für ein zufälliges räumlich- und zeitliches Zusammenfallen des ANITA-Ereignisses mit einer Supernova geben Gorham et al. mit 0,34% an. Aber für eine so weit entfernte und damit lichtschwache Supernova wäre es wiederum unwahrscheinlich, dass das Teilchen von ihr produziert worden sei. Entweder stimme etwas mit dem vom Standardmodell vorhergesagten Wirkungsquerschnitt der UHE-Neutrinos nicht (etwa, dass er bei kleinerer Energie nach oben gedeckelt ist), oder die Supernova hätte die Neutrinos als gerichteten Strahl auf die Erde feuern müssen (zum Beispiel in einem Jet). Für das Ereignis von 2006 fanden sie keine Supernova oder dergleichen als Quelle, mutmaßen aber, dass diese wegen ihrer Nähe zur galaktischen Scheibe von nur 10° hinter dem Staub der Milchstraße verborgen gewesen sein könnte und nicht entdeckt worden sei.

Die Meldung führte zu einer ganzen Flut von ungefähr 40 Folgearbeiten, die alle möglichen exotischen Erklärungen für die beiden Ereignisse heranziehen. Eine der ersten kam von Derek Fox, Steinn Sigurdsson, Sara Shandera und vier weiteren Autoren. Sie zweifeln an, dass ein Neutrino mit oder ohne Regeneration 7200 oder 5700 Kilometer durch die Erde zurücklegen könne. Ihre Simulationen für 1,8 Milliarden sporadische Neutrinos verschiedener Energien auf der Basis des Standardmodells ergaben eine Wahrscheinlichkeit von etwa 1 zu 2 Millionen beziehungsweise 1 zu 30 Millionen, dass ein UHE-Neutrino für 5700 und 7200 Kilometer Weglänge durch die Erde ein für ANITA detektierbares EeV-Ereignis hervorbringen könne.

Der Statistik nach müssten bei geringeren Energien von 1 bis 10 PeV (1012 eV) 1100 beziehungsweise 32.000 Mal so viele Neutrinos auftreten, die die Erde problemlos durchdringen könnten und von anderen Neutrinoobservatorien wie dem Pierre-Auger-Observatorium in Malargüe, Argentinien, oder IceCube in der Antarktis detektiert werden müssten. Um während der etwa 3-monatigen Beobachtungszeit von ANITA gleich zwei EeV-Neutrino-Ereignisse zu produzieren, müssten die anderen Neutrinoobservatorien zwei Millionen Mal mehr sporadische Neutrinos aufspüren, als sie es tun. Dies gilt analog für Schauer von transienten Quellen wie Supernovae – da ANITA während ihrer Beobachtungszeit gleich 2 Ereignisse erwischte, müssten die Neutrinoobservatorien etwa zweimal pro Monat Neutrinoschauer beobachten, was nicht der Fall ist.

Der Alternativvorschlag von Fox et al. lautet, dass die Ursache ein Teilchen außerhalb des Standardmodells gewesen sei. Ein Teilchen, dessen Wirkungsquerschnitt so klein ist, dass es mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit 1000 Kilometer Strecke durch die Erde zurücklegen und dann ein Tau produzieren kann, das von ANITA registriert wurde. Außerdem sollte das Teilchen, falls es aus einem Teilchenschauer auf der gegenüberliegenden Seite der Erde entstand, eine ausreichend lange Halbwertszeit haben, so dass es im Mittel wenigstens einen Erdradius zurücklegen können sollte, bevor es zerfiele. Einen möglichen Kandidaten verorten Fox et al. im supersymmetrischen (SUSY) Partnerteilchen (siehe nächstes Bild) des Taus, das "Stau". Es könnte eine halbe bis eine Protonenmasse haben, um dem LHC am CERN in Genf bisher entgangen zu sein, und es könnte in ein Tau und in das SUSY-Teilchen mit der kleinsten Masse zerfallen, das stabil sein sollte und somit ein Kandidat für die Dunkle Materie wäre.

Links die Teilchen des Standardmodells der Quantenmechanik.
In Gelb die 6 Quarks (Up, Down, Charme, Strange, Top, Bottom), in Rot die leichten Teilchen oder “Leptonen” (unten Elektron, Myon und Tau, darüber Elektron-Neutrino, Myon-Neutrino und Tau-Neutrino). Elektron-Neutrinos entstehen bei Reaktionen mit Elektronen, Myon-Neutrinos bei solchen mit Myonen, und Tau-Neutrinos bei Reaktionen mit Taus. Die Quarks und Leptonen haben alle halbzahligen Spin (solche Teilchen nennt man Fermionen) und bilden die Materie, wobei für die gewöhnliche Materie die linke Spalte reicht: Protonen und Neutronen bestehen nur aus Up- und Down-Quarks. Zwei Fermionen können nicht gleichzeitig im gleichen Quantenzustand (gleicher Ort, Spin, Geschwindigkeit) sein.
In Grün die sogenannten Vektorbosonen, welche die Kräfte zwischen den Fermionen vermitteln. Von oben das Photon (elektromagnetische Kraft, zwischen Elektronen, Myonen, Taus und Quarks), das Gluon (Starke Wechselwirkung zwischen Quarks), das Z- und das W-Boson (Schwache Wechselwirkung zwischen allen Fermionen). Das W-Boson gibt es als positives W+ und negatives W-. Rechts das Higgs-Boson, das vom allgegenwärtigen Higgs-Feld hervorgebracht wird, welches den meisten Teilchen (außer Photon und Gluon) ihre Masse verleiht. Bosonen haben alle ganzzahligen Spin. Sie können in beliebiger Anzahl im gleichen Quantenzustand sein.
Rechts die entsprechenden hypothetischen supersymmetrischen Teilchen (zur Motivation siehe etwa hier).
Nach der Theorie der Supersymmetrie (SUSY) hat jedes Teilchen des Standardmodells je ein supersymmetrisches Partnerteilchen, wobei die Rollen von Materieteilchen und Kräfteteilchen (Fermionen und Bosonen) vertauscht sind. Die Squarks (Sup, Sdown, Scharm, Sstrange, Stop, Sbottom) und Sleptonen (Selektron, Smyon, Stau, Selectron-Sneutrino, Smyon-Sneutrino, Stau-Sneutrino) wären Bosonen mit ganzzahligem Spin, die Partnerteilchen der Kräfteteilchen im Standardmodell (Photino, Gluino, Zino, Wino, Higgsino) wären Fermionen mit halbzahligem Spin. Die meisten SUSY-Teilchen sollen instabil sein und zerfallen; mindestens das Fermion mit der kleinsten Masse sollte aber stabil sein – welches von ihnen es ist, ist unbekannt. Dieses Teilchen könnte das (oder ein) Trägerteilchen der Dunklen Materie sein.

(Bild: Nach Dmitry Kazakov, “Beyond the Standard Model’ 17”, arXiv)

Natürlich müssen Fox, Sigurdsson, Shandera et al. den Beweis schuldig bleiben – immerhin legen sie nachvollziehbar dar, dass ein UHE-Neutrino nicht die Ursache für die beiden ANITA-Signale sein kann und damit eine Erklärung jenseits des Standardmodells plausibel erscheint. Alles Weitere ist Spekulation. Zumal sich kein einziges SUSY-Teilchen im LHC (oder sonst wo) zeigen mag.

John Cherry mit Ian Shoemaker und andere Arbeiten vermuten hingegen, bei den Teilchen, die da die Erde durchstoßen haben sollen, handele es sich um "sterile Neutrinos", die ebenfalls Kandidaten für die Dunkle Materie sind. Neutrinos haben wie alle Fermionen einen Spin, eine Art quantenmechanische Variante des Drehimpulses. Der Spin kennt aber in Bezug auf eine Messung immer nur zwei mögliche, entgegengesetzte Richtungen. Elektronen und Protonen können ihre Spins in die jeweils andere Richtung kippen. Alle drei Neutrinos sind hingegen "linkshändig": wenn bei der linken Hand der gestreckte Daumen in Richtung ihrer Bewegungsrichtung zeigt, dann zeigen die vier eingeklappten Finger in Richtung des Drehsinns.

Aus Gründen, für die hier kein Raum ist (dort schon), nimmt man an, dass es noch drei weitere, stets rechtshändige Neutrinos geben soll, die gegenüber der Schwachen Wechselwirkung "steril" sind – sie spüren sie nicht und zeigen sich daher in keinem Neutrinodetektor oder Teilchenbeschleuniger. Sie sollen erheblich schwerer sein, als die drei Standardmodell-Neutrinos. Deren Massen sind bisher unbekannt, man weiß nur mit Sicherheit, dass sie nicht 0 sind und kleiner als 2 eV/c². Zwei Experimente weisen darauf hin, dass es mindestens eine vierte Neutrinoart geben könnte, die eine sehr viel größere Masse haben müsste.

Die bekannten drei Neutrinoarten wandeln sich permanent ineinander um. Ein bei einer Reaktion mit einem Elektron entstandenes Elektron-Neutrino wandelt sich nach einer gewissen Strecke, die mit zunehmender Teilchenenergie zunimmt, in ein Myon- oder Tau-Neutrino um. Das ist experimentell nachgewiesen. Man nimmt an, dass Neutrinos aus einer Überlagerung von drei "Eigenzuständen" verschiedener Massen bestehen, deren quantenmechanische Zustandswahrscheinlichkeiten wie Wellen schwingen, aber mit verschiedenen Wellenlängen. Aus der Kombination der drei Wellen ergibt sich der jeweilige beobachtete Typ ("flavor" = Geschmack) des Neutrinos, der bestimmt, mit welchen Leptonen es wechselwirken kann.

Wenn es sterile Neutrinos gibt, käme noch mindestens ein vierter Eigenzustand hinzu, der in Kombination mit den anderen Eigenzuständen die sterilen Neutrinos produzieren könnte, die wir in unseren Experimenten nie sehen. Da die Strecken, über die die Neutrinos ihren Flavor verändern, mit zunehmender Teilchenenergie sehr groß werden können, und da sterile Neutrinos nicht einmal die schwache Wechselwirkung spüren sollen, könnten sie die Erde problemlos durchdringen. Wandelten sie sich rechtzeitig in ein Tau-Neutrino, dann könnten sie mit einem Atomkern interagieren und ein Tau produzieren, dessen Askarayan-Strahlung von ANITA empfangen werden kann.

Neutrinooszillation von ursprünglichen Elektron-Neutrinos (schwarz) in Myon- (blau) oder Tau-Neutrinos (rot). Auf der y-Achse die Wahrscheinlichkeit für jeden Neutrinoflavor, ihn beim Wert auf der x-Achse anzutreffen, und auf der x-Achse die Entfernung von der Quelle dividiert durch die Energie der Neutrinos in km pro Gigagelektronenvolt. Das heißt, mit der Teilchenenergie wächst in gleichem Maße die Strecke, über die ein bestimmter Flavor Bestand hat, bevor er sich in einen anderen umwandelt.

(Bild: Wikimedia Commons)

Guo-yuan Huang hat berechnet, dass bei einer Masse des vierten Eigenzustands von mehr als 1 keV/c² die Oszillationsstrecke für das sterile Neutrino lang genug wäre, die Erde zu durchqueren. Da ANITA die stark gerichtete Askaryan-Strahlung nur dann empfängt, wenn sie sich aus Sicht der Quelle in einem engen 1° durchmessenden Sichtfeld befindet, kann sie nicht alle Ereignisse in ihrem aus etwa 35 Kilometer Höhe potenziell eine Million Quadratkilometer umfassenden Blickfeld registieren. Wenn man die Fläche mit der Wahrscheinlichkeit multipliziert, dass ein Signal tatsächlich bei ihr eintrifft, erhält man die Größe einer äquivalenten Fläche, aus der ANITA gleich viele Signale empfangen würde, wenn sie jedes im Eis auftretende Ereignis empfangen würde, und das sind nur 4 Quadratkilometer.

Auf der Basis dieser Fläche kann man die Ereignisraten von ANITA mit denen anderer Neutrinoobservatorien vergleichen. ANITA hätte gemäß Guo-yuans Analyse bei einer effektiv überwachten Fläche von ca. 4 km² im Durchschnitt ein Ereignis in drei Monaten Beobachtungszeit sehen sollen (es waren 2, das ist noch im statistischen Rahmen), während IceCube mit 1 km² überwachter Grundfläche in 12 Monaten ein Ereignis hätte sehen sollen und in 6 Betriebsjahren dementsprechend 6 Ereignisse. Bisher gibt es aber gerade einmal einen möglichen IceCube-Kandidaten, was gegen sterile Neutrinos als Quelle der ANITA-Detektionen spreche.

Ein Team um Luis Anchordoqui sieht in den zwei ANITA-Ereignissen gar den Beleg für die Existenz eines zeitsymmetrischen Spiegeluniversums! Tatsächlich ist die Idee um die es geht – dass bei der Entstehung des Universums nicht nur unser Universum mit unserer Zeitrichtung entstand, sondern auch ein zweites, in dem die Zeit in die entgegengesetzte Richtung läuft – gar nicht so abwegig; dazu braucht es ein wenig mehr Hintergrund, den ich in meiner Blog-Reihe über die Zeit erläutere. Dieses Universum würde aus unserer Sicht vor dem unsrigen bestanden und mit dem Urknall geendet haben. Aus Sicht des anderen Universums wäre es genau umgekehrt.

Nach einer Idee von Latham Boyle, Kieran Finn und Neil Turok aus dem Jahr 2018, die diese Hypothese fortführt, wäre dieses Universum eine Art Spiegelbild unseres Universums. Bei uns hinterließ der Urknall, aus dem fast die gleiche Menge Materie wie Antimaterie entstand, einen winzigen Überhang von nur einem Milliardstel an verbliebener Materie - im Spiegeluniversum wäre ein Milliardstel mehr Antimaterie übrig geblieben. Der Urknall selbst wäre keine echte Singularität, sondern nur eine Koordinatensingularität (der Nordpol ist eine Koordinatensingularität der geographischen Koordinaten: es gibt keinen nördlicheren Ort, trotzdem hindert einen in der Praxis nichts daran, ihn auf dem Weg nach Norden zu überschreiten, außer vielleicht widriges Wetter).

Teilchen, die mit anderen nur über Gravitation wechselwirken, könnten den Urknall demnach von einem zum anderen Universum passiert haben. Als kleinste Erweiterung des Standardmodells sehen Boyle et al. die Ergänzung von drei rechtshändigen sterilen Neutrinos, von denen genau eines stabil wäre und unsere Dunkle Materie bildete. Aufgrund ihrer Berechnungen sagen sie vorher, dass dieses sterile Neutrino eine Masse von 4,8·108 GeV = 0,48 EeV haben sollte (aber nicht zu leichten Standardmodell-Neutrinos oszillieren sollte).

Das ist nun verblüffend nahe an dem Wert, den die beiden ANITA-Ereignisse an Energie freigesetzt haben (0,6±0,3 EeV). Zwei Ereignisse mit im Rahmen der Messgenauigkeit derselben Energie, welche auch noch zur Energie des postulierten sterilen Neutrinos des Spiegeluniversums von Boyle et al. passt – da mochten Anchordoqui et al. nicht an einen Zufall glauben. Sie argumentieren, dass die sterilen Neutrinos nicht komplett steril seien und ein klein wenig schwach wechselwirken könnten. Deswegen würden sie beim Durchqueren der Erde an den Atomen gestreut, Energie verlieren und sich aufgrund der Erdgravitation im Zentrum der Erde ansammeln. Dort würden sie dann, weil sie doch nicht völlig stabil seien, gelegentlich in ein Higgs-Boson und ein Standard-Modell-Neutrino zerfallen. Wenn hinreichend viele solche Zerfälle stattfänden, könnten ein paar dieser Neutrinos statistisch die Erde durchdringen und nahe der Oberfläche das Askaryan-Signal eines Taus produzieren.

WENN also das Universum ein Spiegeluniversum hätte und WENN dieses ein steriles Neutrino von 0,48 EeV als Dunkle-Materie-Teilchen in unser Universum geschleust hätte und WENN das Teilchen doch nicht komplett steril wäre und sich in der Erde sammeln würde und WENN es dann in ein gewöhnliches Tau Neutrino zerfallen würde und WENN genug davon die Erdoberfläche erreichen würden und WENN sie dann dort Askaryan-Strahlung produzieren würden, DANN könnten die ANITA-Signale ein Beleg für das Spiegeluniversum sein. Das sind eine Menge WENNs und die Schlussfolgerung funktioniert nicht in der umgekehrten Richtung: dass aus den ANITA-Signalen die Erfüllung aller dieser Voraussetzungen und insbesondere die der Existenz eines Spiegeluniversums folgt.

Wir haben uns nun also von zwei ungewöhnlichen Funksignalen über die Supersymmetrie und die sterilen Neutrinos bis zu einem Spiegeluniversum vorwärts gesponnen. Alles hängt aber letztlich nur an der fehlenden Phasenumkehr der beiden anormalen ANITA-Signale, aus der eine Ursprungsflugrichtung der Teilchen durch das Innere der Erde gefolgert wurde, während IceCube nichts dazu Passendes mit Bestimmtheit gemessen hat. Und so liefert eine im April 2020 veröffentlichte Arbeit von Ian Shoemaker, Alexander Kusenko und anderen eine verblüffende alternative Erklärung: Die Funksignale stammten, wie die meisten anderen von ANITA beobachteten, von in die Atmosphäre eingeschlagenen Teilchen der kosmischen Strahlung und seien wie gewöhnlich reflektiert worden, aber nicht am Boden, sondern im Boden, und deswegen gebe es keine Phasenumkehr.

Elektromagnetische Wellen, die von einem optisch dünneren Medium n1 an der Grenzschicht zu einem optisch dichteren Medium n2 reflektiert werden, erfahren eine Phasenumkehr, das heißt die Welle wird um ½ Wellenlänge gegenüber der einlaufenden Welle versetzt. Wird die Welle hingegen an der Grenzschicht vom optisch dichteren Medium zum optisch dünneren reflektiert, kommt es nicht zu einer Phasenumkehr.

(Bild: Access for free at https://openstax.org/books/university-physics-volume-3/pages/1-introduction, CC BY 4.0.)

Eine Phasenumkehr tritt genau dann ein, wenn das Funksignal von einem optischen dünneren Medium (mit kleinerem Brechungsindex, wie etwa Luft) an einem optisch dichteren (mit größerem Brechungsindex, wie etwa Eis) reflektiert wird. Reflexionen treten aber ebenso beim Übergang vom optisch dichteren zum optisch dünneren Medium ein (was jeder weiß, der schon einmal von unten gegen eine Wasseroberfläche geschaut hat), und dann tritt keine Phasenumkehr auf. Es bräuchte also nur eine Schicht im Eis, in der die optische Dichte für die Funksignale nach unten abnimmt, dann könnte ihre Grenzfläche Radioechos erzeugen, die genau so aussehen, als ob ihre Quelle in der Tiefe des Eises läge.

Mögliche Schichten sind im Eis eingeschlossener Schwimmschnee, Schichten verschieden dichter Firne, vom Wind glatt geschliffene und dann von Schnee bedeckte Eiskrusten, oder Schichten von Eisgefügen mit verschieden ausgerichteten Kristallen. Auch die Unterseiten von im Eis eingeschlossenen Seen flüssigen Wassers (subglaziale Seen) oder von Schnee bedeckte Hohlräume (wie Eishöhlen oder zugewehte Gletscherspalten) könnten solche Reflektoren bilden. Voraussetzungen wären, dass der Brechungsindex nach unten abnimmt, dass die reflektierende Schicht gegenüber den darüber liegenden, mit Phasensprung reflektierenden Flächen verkippt wäre (damit ihre phaseninvertierten Echos das nicht invertierte Echo nicht überlagern), dass die Flächen mindestens ungefähr 100 Meter durchmessen und die Schicht darüber dick genug ist.

Shoemaker et al. haben berechnet, dass ein Anteil von 7 Prozent der von ANITA überwachten Fläche mit entsprechenden Schichten im Eis ausreichen würde, um die beiden mutmaßlichen Aufwärts-Teilchenschauer statistisch zu erlauben (bei ansonsten insgesamt 33 registrierten Ereignissen in der Atmosphäre aufgrund kosmischer Strahlung). Für Schwimmschnee und Firne mit variierender Dichte sei dieser Flächenanteil gegeben, für Windkrusten und Schichten von Eisgefüge sei er unbekannt und für subglaziale Seen und Lufteinschlüsse sei der Anteil nicht gegeben, aber sie könnten zur Gesamtfläche beitragen.

Somit gibt es eine einfache Erklärung, die keinerlei supersymmetrischer Teilchen, keiner sterilen Neutrinos und keiner Spiegeluniversen mit nur ein bisschen sterilen Neutrinos bedarf. Nach Ockhams Rasiermesser wäre sie vorzuziehen, was allerdings kein Beweis für ihre Richtigkeit ist. So darf weiter spekuliert und auf die Ergebnisse der nächsten ANITA-Mission gewartet werden.

Quellen:

(mho)