Die X-Akten der Astronomie: Die rätselhaften Radiosignale aus dem Untergrund

Ein aufwändiges Experiment am Ende der Welt findet Hinweise auf seltsame Teilchen und die Theorien sprießen. Dann verblüfft ein Erklärungsversuch.

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Die X-Akten der Astronomie: Die rätselhaften Radiosignale aus dem Untergrund

Der Start von ANITA

(Bild: Brian Hill (University of Hawaii Manoa))

Lesezeit: 29 Min.
Von
  • Alderamin
Inhaltsverzeichnis

Dank immer besserer Technik, innovativen Ansätzen und internationaler Kooperation erlebt die Astronomie eine Blüte. Doch während viele Beobachtungen dabei helfen, Theorien zu verfeinern oder auszusortieren, gibt es auch immer wieder Entdeckungen, die einfach nicht zu passen scheinen. Mysteriöse Signale, mutmaßliche Verstöße gegen Naturgesetze und – noch – nicht zu erklärende Phänomene. In der Öffentlichkeit wird dann gerne darüber diskutiert, ob es sich um Spuren außerirdischer Intelligenz handelt, Wissenschaftler wissen, dass es am Ende fast immer eine natürliche Erklärung gibt. Aber überall wird die Fantasie angeregt.

In einer Artikelserie auf heise online werden wir in den kommenden Wochen einige solcher astronomischen Anomalien aus einer jüngst vorgestellten Sammlung vorstellen und erklären, warum alle Erklärungsversuche bislang an ihnen scheitern.

Die X-Akten der Astronomie

Die Kosmologie beschäftigt sich nicht nur mit den Tiefen des Raums. Kosmologie ist auch eng verknüpft mit der Teilchenphysik, insbesondere bei der Frage nach der Dunklen Materie, und die kann man auch auf Erden suchen. Vor zwei Jahren geisterten Meldungen durch die Presse, dass das Ballonexperiment ANITA in der Antarktis Spuren bisher unbekannter Teilchen gefunden haben könnte, die im Zusammenhang mit der Dunklen Materie stehen könnten. Erwartungsgemäß schossen danach die Hypothesen ins Kraut, was ANITAs Beobachtungen einen Eintrag in den Anomalien-Katalog des Breakthrough-Listen-Projekts bescherte. Kürzlich wurde nun eine sehr verblüffende These veröffentlicht, die alle zuvor geäußerten Hypothesen zur Makulatur machen könnte.

Warum können wir eigentlich auf einem Stuhl sitzen oder auf dem Boden stehen? Die Frage scheint absurd, aber ihre Antwort führt rasch in die Abgründe der Quantenphysik und sogar auf die Dunkle Materie. Weil wir aus Atomen bestehen, die wiederum aus Kernteilchen (elektrisch positiv geladenen Protonen und nach außen neutralen Neutronen) zusammengesetzt sind, welche von negativ geladenen Elektronen wie eine Wolke umringt werden. Zwar steckt in den Atomkernen 99,95 Prozent der Atommasse, aber sie sind hunderttausende Male kleiner als die Elektronenwolke. Die Elektronen selbst sind im Rahmen der von uns erreichbaren Messgenauigkeit punktförmig, dennoch verbietet die Quantenphysik, dass zwei Elektronen im gleichen Quantenzustand denselben Raum teilen, und das hält sie untereinander und auch die Atome insgesamt auf Abstand. Das Größenverhältnis zwischen den Kernteilchen und der Elektronenwolke entspricht etwa demjenigen eines Stecknadelkopfes zu einem Sportstadion. Atome sind also im Wesentlichen leerer Raum.

ANITA-Nutzlast mit ihren zahlreichen Antennen (weiße Trichter) vor dem 2. Start. Im Hintergrund der Ballon, der die Nutzlast in die Stratosphäre trägt.

(Bild: NASA, Goddard Space Flight Center, CC BY 2.0)

Die Abstände der Elektronen sind vergleichsweise groß, weil die elektrische Abstoßung gleicher Ladungen eine große Reichweite hat. Von den vier Grundkräften haben die elektromagnetische Wechselwirkung und die Gravitation unendliche Reichweiten, die starke und die schwache Wechselwirkung gewöhnlich hingegen nur Reichweiten von 10‑15 m (etwa Durchmesser eines Kernteilchens) bzw. 10‑18 m (ein Tausendstel eines Kernteilchens!). Auch Elektronen, Protonen und Neutronen können über die schwache Wechselwirkung interagieren, wenn ihnen nur ein Teilchen nahe genug kommt.

Wenn es nun ein Teilchen gäbe, das die elektromagnetische Kraft nicht spürte, dann wäre das Atom für dieses Teilchen tatsächlich ein großer leerer Raum, den es ungehindert durchfliegen könnte. Spürte es zumindest die schwache Wechselwirkung, dann bildete jedes Elektron und jedes Quark eines Atoms ein winziges Ziel in Bakteriengröße verteilt auf die Querschnittsfläche eines Sportstadions. Und die muss man erst einmal treffen.

Es gibt tatsächlich solche Teilchen, die Neutrinos. Sie entstehen zum Beispiel bei den Kernfusionsreaktionen im Inneren der Sonne in großer Zahl (solare Neutrinos). Da die Sonnenmaterie für sie so gut wie nicht vorhanden ist, entfliehen sie dem Sonneninneren fast mit Lichtgeschwindigkeit und ein kleiner Teil von ihnen erreicht nach 8 Minuten 20 Sekunden die Erde, die sie mitsamt ihren Bewohnern ebenso durchdringen, als wären diese nicht da. Träfe eine Gruppe solarer Neutrinos auf eine Bleiplatte von einem Lichtjahr Stärke – das sind immerhin 9.460.000.000.000 Kilometer –, dann würde am anderen Ende noch die Hälfte von ihnen herauskommen.

Entsprechend schwierig ist es, Neutrinos überhaupt nachzuweisen. Neutrinoobservatorien schaffen das mit riesigen unterirdischen Behältern, die meist mit Flüssigkeiten wie Argon oder Wasser oder Feststoffen wie Glas oder Eis gefüllt sind. Je größer das Volumen der Detektormedien, desto wahrscheinlicher können einzelne Neutrinos nachgewiesen werden. Sollte eines der Abermilliarden Neutrinos von der Sonne oder irgendeiner kosmischen Quelle, die pro Sekunde jeden Quadratzentimeter der Erde durchstoßen, nämlich doch zufällig einmal einem Kernteilchen oder einem Elektron nahe genug kommen, dass sie schwach wechselwirken, kann eine Reaktion ausgelöst werden.

Dabei wird oft ein Teilchen freigesetzt, das einen Lichtblitz oder eine Lichtspur im Detektormedium verursacht, die mit empfindlichen Fotosensoren registriert werden. Berühmt ist das IceCube-Experiment in der Antarktis, bei dem ein 1 Kubikkilometer großes Volumen antarktischen Eises mit Fotosensoren bestückt wurde, die durch kilometertiefe Bohrlöcher an Kabelsträngen ins Eis hinabgelassen wurden. Die Bohrlöcher wurden danach mit Wasser geflutet, so dass die Fotosensoren im Eis einfroren.

Physiker geben Teilchenenergien in Elektronenvolt an, damit sie nicht mit unpraktisch kleinen Zahlen hantieren müssen: 1 eV ist die Energie, die ein Elektron (oder ein anderes Teilchen mit einer Elementarladung, etwa ein Proton) aufnimmt, wenn es eine elektrische Spannung von einem Volt durchläuft. In Beschleunigern bringt man die Teilchen nämlich auf Touren, indem man sie immer wieder hohe Spannungen durchlaufen lässt. Als Energieeinheit kann man Elektronenvolt natürlich auch in Joules (oder die Old-School-Kalorien) umrechnen: 1 eV = 1,6 · 10-19 J. Teilchenmassen werden auch oft in eV angegeben, denn wegen E = mc² entspricht einer Masse m mal der Lichtgeschwindigkeit c zum Quadrat eine Energie E. Korrekterweise schreibt man die Masse dann als E/c², also soundsoviel eV/c², aber schreibfaule Physiker lassen das c² gerne weg, man weiß ja, was gemeint ist. Ich werde es der Klarheit zuliebe beibehalten.

Wirkungsquerschnitt für Neutrino-Interaktionen in Abhängigkeit von der Neutrino-Energie. Auf der x-Achse ist die Neutrinoenergie von 10-5 eV (10 µeV) bis zu 1018 eV (1 EeV) aufgetragen. Auf der y-Achse ist die das Neutrino umgebende Fläche aufgetragen, die ein Teilchen treffen muss, damit es zu einer Interaktion mit dem Neutrino kommen kann. Die Fläche ist angegeben in Millibarn (1/1000 Barn). Die unter Teilchenphysikern beliebte Einheit Barn ("Scheune" – weil diese Fläche Teilchenphysikern so groß wie ein Scheunentor erscheint) entspricht einer Querschnittsfläche von 10-28 m².

(Bild: Joseph A. Formaggio et al., arXiv)

Mit der Antarctic Impulsive Transient Antenna (ANITA) sucht man auf ganz andere Weise nach Neutrinos als in den klassischen Observatorien. Es ist das erste Gerät zur Suche nach Neutrinos extrem hoher Energien von 1018 bis 1021 Elektronenvolt (eV), oder kürzer mit Präfixen geschrieben 1 Exa-Elektronenvolt (EeV) bis 1 Zetta-Elektronenvolt (ZeV). 1 ZeV sind 160 Joule, das ist in der Größenordnung der Bewegungsenergie eines mit 190 km/h aufgeschlagenen Tennisballs oder eines mit knapp 100 km/h getretenen Fußballs – konzentriert in einem einzigen Elementarteilchen! Teilchen mit solchen Energien sollen etwa bei der Kollision von Partikeln der kosmischen Strahlung (wie Protonen, Neutronen und Heliumkerne) mit Photonen entstehen und wurden auch schon beobachtet.

Interessanterweise schaffen die energiereichsten Teilchen der kosmischen Strahlung mit mehr als 10 EeV ("Ultra High Energy Cosmic Rays", UHECR) es nicht, große Entfernungen von mehreren 10 Millionen Lichtjahren zurück zu legen, weil sie mit den Photonen der kosmischen Hintergrundstrahlung kollidieren und dabei eben jene ultrahochenergetischen (UHE) Neutrinos erzeugen, nach denen ANITA sucht. Die UHE-Neutrinos bewegen sich ungehindert geradlinig weiter und verraten, woher die UHECR-Teilchen stammen. Diese werden zum Beispiel in den Jets aktiver Galaxienkerne erzeugt, die natürliche Beschleuniger von Lichtjahr-Abmessungen bilden.