Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Betreiber bauen im Rücken der Armee Netze neu auf

Seite 2: Verlorene Vorwahlen

Inhaltsverzeichnis

Reparaturarbeiten im Krieg.

(Bild: RIPE)

Wenig zu erfahren war bislang über die Strategie der russischen Seite, für die Kommunikation notwendige Identifier zu stehlen oder umzubiegen. Sowohl die IP-Adressverwaltung RIPE wurde damit konfrontiert, als auch die für Telefon-Vorwahlnummern zuständige ITU.

"Der Aggressor" habe einseitig das von der ITU in den Standards E.164 und E.212 festgelegte System der Ländervorwahlen geändert, heißt es im ITU-Bericht. Von Russland besetzte ukrainische Gebiete verloren ihre Vorwahl +72 und +71 und sind nun unter Russlands und Kasachstans Ländervorwahl +7 zu erreichen. Die Mobilfunkbereiche 99, 978, 941, 958, 949, 959, 990, 365 und 869 wurden von Providern von russischen Gnaden selbst genutzt und in den besetzten Gebieten Krim, Sewastopol, Donezk, Luhansk, Cherson und Saporischschja auf das internationale Nummerierungssystem der Russischen Föderation umgeschaltet. Das Mobilfunksystem werde russifiziert, schreiben Analysten von ENEA, einem schwedischen Unternehmen für Telekom-Software und -Security, in einer Analyse.

Gegen einen "Abtransport" von IPv4-Adressen oder AS-Nummern durch die russischen Invasoren hat das RIPE NCC eine "Sperrmöglichkeit" eingeführt. Service-Provider in besetzten Gebieten würden unter Zwang solche Ressourcen transferieren, appellierte Oleksandr Savchuk, Vorsitzender des Verband Ukrainian Internet Associaton (UIA) im Oktober 2022 an die Adressverwaltung. Wer aus den besetzten Gebieten geflohen sei, laufe überdies Gefahr, dass Adressen seines Netzes ohne sein Wissen an einen neuen Eigentümer übertragen würden.

Für erst einmal sechs Monate hat der geschäftsführende Vorstand des RIPE nun eine Notbremse eingezogen. Allen Mitgliedern steht es jetzt frei, Transfers grundsätzlich zu blocken. Zugleich will die RIPE offene Transfer-Vorgänge wie schon bisher besonders prüfen. Für eine dauerhafte Regelung müssen nach den RIPE-Statuten die Mitglieder, also die Netzbetreiber der RIPE-Region, neue Regeln vereinbaren. Den Wunsch, russische Mitglieder des RIPE von dieser Debatte auszuschließen, lehnte der Vorstand ab. Der "Rough Consensus" dürfte hier zugunsten der Ukraine ausschlagen, wird erwartet.

Wie viele IPv4-Adressen, die ja mittlerweile recht wertvoll sind, bislang geklaut wurden? Genaue Zahlen über Transfers von besetzten Gebieten der Ukraine ins Ausland habe er nicht, weil es sehr schwer sei, festzustellen, wo Netze geographisch angesiedelt sind, erklärt Holen. Seit Februar 2022 wurden insgesamt 70 IPv4-Blöcke von ukrainischen Inhabern transferiert, zusammen mit 20 AS-Nummern und einer Reihe von IPv6-Blöcken. Die Mehrzahl dieser Transfers sei dabei innerhalb der Ukraine geblieben: 100 Prozent der Ipv6-Blöcke, 90 Prozent der ASN, fürs Routing wichtige Nummern von IP-Netzen, und 50 Prozent der IPv4-Blöcke. "Nur eine Handvoll wurde an russische Organisationen transferiert und diese Transfers unterziehen wir besonders strengen Prüfungen."

Das sind eher subtile Attacken aufs System. Die Provider-Teams, die kaputte Glasfaserleitungen zwischen Bombentrichtern ausgebrannten Panzern heben und neu spleißen, kämpfen mehr mit dem Mangel an Material. Gebraucht wird nach wie vor fast alles, wie die Liste zeigt, über die KeepUkraineConnected Spender und Empfänger zusammenzubringen versucht.

An die 300 Bitten sind dort eingetragen, von 2 Juniper-Switches QFX5120-32C-AFO bis zu "MULTITEST MT3217 PON-Netzwerktester". Auch gesucht werden Splicer für die Reparatur durchtrennter Kabelstrecken. KeepUkraineConnected schaffte im vergangenen Jahr einen mit eingesammelten Spenden erworbenen Splicer über DEPS in die Region Charkiv, und bat zugleich "wir brauchen mehr".

Massenhaft gebraucht werden laut Kniaziev passive Komponenten. Für die in der Ukraine an vielen Stellen noch eingesetzten Luftkabel auf der letzten Meile, die bei Angriffen zerstört werden, passt dabei nicht immer, was westliche Spender noch am Lager haben. Denn die jüngeren Generationen solcher AirCables sind in Europa kaum im Einsatz.

Zugleich wird nicht nur nach-, sondern, wo möglich, auch aufgerüstet. Nach all den Problemen mit Stromausfällen und Blackouts stellen ISP in der Ukraine auf eigene Glasfaserstrecken um und setzen weniger auf stromfressende Passive Optical Networks, berichtet Kniaziev. Vorab hatten sie auf Ethernet zur Verteilung der Signale gesetzt. Bei einem Blackout musste jeder einzelne Switch – oft gab es mehrere pro Gebäude – mit einer Reservebatterie am Leben gehalten werden. Aus Providersicht machte sich dabei auch die Wechselbereitschaft der Ukrainer bemerkbar. Es ist üblich, dass in jedem Gebäude mindestens zwei, manchmal aber sogar fünf bis sechs Anbieter ihre Dienste verkaufen.

Redundanz ist im Krieg auch für RETN wichtig. Der Backboneanbieter, der aktuell rund 10 Prozent des Datenverkehrs in der Ukraine bewegt – im grenzübergreifenden Verkehr sogar 15 Prozent –, hat im Juli 2022 eine neue DWDM-Route zwischen Luzk und Monastyryschtsche geschaltet, um nicht allen Verkehr aus der Südukraine in Richtung Warschau über Kiew routen zu müssen. Im August kam eine neue 500 G DWDM Backbone-Route zwischen Chisnau und Odessa hinzu, der den Weg in Richtung Balkanländern deutlich verkürzen soll.

Auch das Satellitennetzwerk Starlink ist ein gezielt eingesetztes Backup für all die Orte, wo Konnektivität fehlt. Etwa 20.000 Terminals seien mittlerweile in der Ukraine im Einsatz. Laut ITU hat allein das ukrainische Telekommunikations-Ministerium 12.000 schon in den ersten Kriegsmonaten verteilt. Auch Generatoren, Tesla-Stromspeicher und Batterien teilte die Regierung aus und förderte die Einrichtung von WLAN in Schulen und Luftschutzkellern mit entsprechendem Equipment.

Die ukrainische Regierung tut, was sie kann. Aber zugleich entzieht sie den Telekom-Brigaden angesichts zunehmender Kämpfe auch mehr und mehr Leute. Es gibt eine Prozedur, Fachkräfte für die Arbeit an kritischen Infrastrukturen freistellen zu lassen. Doch die sind kompliziert, gerade für viele kleine Provider, beobachtete Kniaziev. Zugleich verlieren die Unternehmen auch noch hoffnungsvollen Nachwuchs, häufig geht dieser ins Ausland, arbeitet eine Zeit lange noch von dort remote und orientiert sich dann neu.

Kniaziev hat auch das Gefühl, dass die umfangreiche internationale Unterstützung der ersten Monate allmählich zurückgegangen ist. Zwar gebe es langfristige Unterstützung gerade von Initiativen wie KeepUkraineConnected, der Society for Cable Telecommnications Engineers (SCTE) oder der Polish Chamber of Electronic Communications (PIKE). Die Hersteller aber seien nicht mehr ganz so freigiebig wie in den ersten Kriegsmonaten und der Strom von Geldspenden lasse auch langsam nach.

"Alle warten auf das Ende des Krieges und sind vielleicht ein wenig der Nachrichten aus der Ukraine müde", vermutet Kniarziev. Der Krieg inmitten Europas dürfe nicht vergessen werden. "Nach dem Sieg werden wir die Unterstützung der ganzen Welt brauchen, um unser Land wieder aufzubauen. Für heute genügt es, die Ukraine wenigstens am Netz zu halten."

()