Kritik an EU-Klimagesetz: Falsche Anreize zulasten natürlicher CO₂-Speicher

Das Klimapaket "Fit for 55" setze falsche Anreize zum Klimaschutz, meint ein Forscherteam – vor allem bei der Landnutzung für Biomasse, etwa für Biodiesel.

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(Bild: Claudia Harms-Warlies / Shutterstock.com)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Hanns-J. Neubert
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Forscher sehen falsche Anreize beim Klimapaket "Fit for 55" der Europäischen Kommission. Vor allem die darin enthaltene Förderung der Bioenergie in der EU wirke sich nämlich auch negativ auf CO₂-Speicherung und Biodiversität in Ländern außerhalb der EU aus.

In einem Kommentar im Wissenschaftsmagazin "Nature" kamen Timothy Searchinger und Oliver James von der Princeton Universität in New Jersey und drei weitere Wissenschaftler aus Deutschland, Frankreich und Schweden zu dem Schluss, dass die EU-Länder durch die Umsetzung dieses Gesetzespakets künftig noch mehr wertvolle Flächen für Holzanpflanzungen und die Gewinnung von Bio-Kraftstoffe umwidmen werden, anstatt sie für den Nahrungsmittelanbau zu nutzen.

"Das Problematische am 'Fit for 55'-Paket ist, dass der Anbau von Biomasse generell für CO₂-neutral erklärt und deshalb gefördert wird", erläutert Mitautor Thomas Kastner vom Senckenberg Biodiversität und Klima Forschungszentrum Frankfurt. "Bioenergie ist aber nicht CO₂-neutral!"

Daran dürfte übrigens auch die Bioenergie mit Kohlenstoffabscheidung und -speicherung (BECCS) erst einmal nichts ändern, wie ein Bericht von BioFuelWatch jüngst klarlegte. Danach gib es nämlich keine Anzeichen dafür, "dass ein Unternehmen auch nur annähernd über das technische Know-how verfügt, um Kohlenstoff aus der Verbrennung von Biomasse in großem Maßstab abzuscheiden", heißt es darin.

Die EU ignoriere außerdem die Folgen gesteigerter Landnutzung für Bioenergie, so Kastner. Denn die Flächen, die für die Produktion von Bioenergie genutzt würden, ständen nicht für den Anbau von Nahrungsmitteln zur Verfügung. Lebensmittel müssten dann nämlich importiert werden, wofür in anderen Teilen der Welt Wälder abgeholzt werden. "Das Problem wird so nur verlagert. Gleichzeitig fehlen die zur Bioenergiegewinnung genutzten Flächen als CO₂-Speicher und Lebensraum für gefährdete Arten."

"Fit for 55" ist ein Gesetzespaket, das Teil einer Reihe von Maßnahmen und Initiativen im Rahmen der übergeordneten Strategie des "European Green Deal" ist, mit der alle EU-Länder bis 2050 klimaneutral werden sollen. Ministerrat und Europäisches Parlament verabschiedeten die Sammlung der Rechtsvorschriften am 18. Dezember 2021. Deren Ziel ist, die Treibhausgasemissionen in der EU bis 2030 um mindestens 55 Prozent gegenüber 1990 zu senken. Die Mitgliedsstaaten müssen sie jetzt in nationales Recht überführen.

Das Gesamtpaket enthält beispielsweise neue Regeln für Emissionshandelssysteme, ein CO₂-Grenzausgleichssystem, einen Klima-Sozialfonds, Abgasnormen und Steuern für Autos, Schiffe und Flugzeuge, Energieeffizienz, aber auch neue Vorschriften für den Sektor Landnutzung, Landnutzungsänderungen und Forstwirtschaft (LULUCF für "Land Use, Land-Use Change And Forestry"). Gerade an letzterem entzündete sich die Kritik der Kommentatoren.

Denn: "Gleichzeitig werden falsche Anreize für Energie-Kunden gesetzt: Die Industrie, Energie- und Transportunternehmen erhalten Emissionsgutschriften für die Nutzung von Bioenergie, unabhängig von den tatsächlichen Auswirkungen auf die CO₂-Bilanz. Dabei führt beispielsweise die Ernte von Holz zur Energiegewinnung nachweislich auf Jahrzehnte zu einer höheren CO₂-Konzentration in der Atmosphäre", kritisiert Searchinger.

Obwohl die Europäische Kommission etwas anderes behaupte, opfere ihr Plan "Fit for 55" die natürliche Kohlenstoffspeicherung und die biologische Vielfalt der extensiven Bioenergie, so der Vorwurf. Die eigenen Modellrechnungen der EU-Kommission sagen nämlich voraus, dass sich die jährliche Nutzung von Bioenergie zwischen 2015 und 2050 mehr als verdoppeln wird. "Dies erfordert eine jährliche Biomassemenge, die doppelt so groß ist wie die derzeitige jährliche Holzernte in Europa und achtmal so groß wie der Anteil dieser Ernte, der heute für Bioenergie verwendet wird", schlussfolgern die Kommentatoren.

Bis 2050 wird Europa danach 22 Millionen Hektar Anbaufläche für Energiepflanzen brauchen. Das entspricht etwa 20 Prozent seiner gesamten Anbaufläche. Darüber hinaus wird die EU zusätzlich noch viermal so viel Holz für Bioenergie importieren müssen.

Für die Ernährung seiner Bevölkerung verlässt sich Europa bereits heute auf Nahrungsmittel aus dem Nicht-EU-Ausland. Diese Importe verursachen jährlich rund 400 Millionen Tonnen Kohlenstoffdioxid-Equivalente – was durch das Baumwachstum in den europäischen Ländern nicht aufgewogen wird.

Das hat zwar dazu geführt, dass sich die Fläche von Europas Wäldern in den vergangenen Jahrzehnten ausgedehnt hat, aber andernorts, vor allem in den Tropen, führte das zu einer Abholzung von etwa 11 Millionen Hektar Wald.

Die bereits am 6. Dezember 2022 vom Ministerrat und dem Europäischen Parlament verabschiedete Verordnung über entwaldungsfreie Produkte und Lieferketten wird diesen Trend nicht aufhalten, befürchten die Landwirtschafts- und Klimaexperten in ihrem Kommentar.

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Damit ließe sich zwar die Einfuhr von Produkten, wie Sojabohnen und Rindfleisch, verbieten, die auf neu abgeholzten Flächen produziert werden. "Solange jedoch die Nutzung bestehender landwirtschaftlicher Flächen in anderen Ländern durch Europa beibehalten wird oder sogar noch zunimmt, müssen sich die landwirtschaftlichen Flächen weltweit ausdehnen. Es sei denn, andere Länder reduzieren ihren ökologischen Fußabdruck zum Ausgleich noch stärker", heißt es in dem Kommentar.

Es könnte aber auch anders gehen, berechneten die Verfasser. Würden nämlich 85 Prozent des europäischen Biodieselverbrauchs wegfallen, dazu die Hälfte des US-amerikanischen und des europäischen Verbrauchs an Getreideethanol, dann wären beispielsweise genügend Anbauflächen frei, um sämtliche Pflanzenöl- und Getreideexporte der Ukraine zu ersetzen.

Europa könnte seinen klimatischen Fußabdruck also durchaus viel stärker reduzieren, wie die Autoren zeigen: "Dies ist machbar."

(jle)