Missing Link: Künstliche Intelligenz in spiritueller Schwerelosigkeit

Seite 3: Technologie und die Entfremdung von ihren Ursprüngen

Inhaltsverzeichnis

Wie kommt es dazu, dass Technologien sich immer wieder so von ihren Ursprüngen entfremden? Was für ein gesellschaftlicher Mechanismus ist hier am Werk? Bei Raketentechnik und Kernenergie haben offensichtlich militärische Interessen eine entscheidende Rolle gespielt. Im Krieg entscheiden vor allem Feuerkraft und Schnelligkeit. Da ist keine Zeit, sich mit fernen Idealen zu beschäftigen.

Aber das ist im Frieden offenbar nicht wesentlich anders: Auch im wirtschaftlichen Wettbewerb – der häufig wie die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln erscheint – gilt es, schneller zu sein als der Gegner, der jetzt Konkurrent oder Mitbewerber heißt. Da ist keine Zeit, sich mit abenteuerlichen Visionen zu beschäftigen.

Im Fall der KI kommt hinzu, dass die Forschungen zur starken KI nicht nur wenig Gewinn versprechen, sondern auch die profitableren Entwicklungen zur schwachen KI beeinträchtigen können. Die Aussagen von Blake Lemoine legen ja nahe, dass auch aus diesen, am kurzfristigen Gewinn orientierten Entwicklungen unbeabsichtigt empfindsame, leidensfähige technische Lebensformen hervorgehen könnten – und zwar nicht erst in ferner Zukunft, sondern jetzt.

Damit aber berührt die Forschung einen Bereich, den sie – zumindest in westlichen Industriegesellschaften – geglaubt hatte, hinter sich gelassen zu haben: den Bereich des Heiligen. Die Erschaffung von Leben ist den Göttern – oder dem einen Gott – vorbehalten. Und es scheint ein selbst unter Atheisten weitverbreiteter Wunsch zu sein, dass das auch so bleiben möge. Das lässt zumindest die Vehemenz vermuten, mit der sogar manche KI-Forscher darauf beharren, dass KI niemals so etwas wie menschliche Gefühle würde entwickeln können. Offenbar gibt es eine Sehnsucht danach, dass der menschliche Geist ein rätselhaftes und einzigartiges Mysterium bleibt.

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Ähnliches mag auch für Raumfahrt und Kernenergie gelten. Immerhin wurde und wird der Himmel oft als Sitz der Götter angesehen und die Sonne selbst als Gottheit verehrt. Vielleicht haben wir die Entzauberung dieser mythischen Orte und Wesen schlechter verkraftet, als bisher angenommen, und müssen uns deshalb, kaum dass wir sie zart berührt haben, gleich wieder von ihnen zurückziehen.

Im Rausch der Befreiung, den die Loslösung der Wissenschaft von kirchlichen Dogmen zunächst ausgelöst hat, konnte das lange Zeit unbemerkt bleiben. Doch mittlerweile scheint das Taumeln in der spirituellen Schwerelosigkeit zunehmend Übelkeit hervorzurufen.

Tatsächlich hat Blake Lemoin seine Aktion auch mit seinen religiösen Überzeugungen gerechtfertigt. Der Philosoph Thomas Metzinger – dem ich übrigens die Kenntnis des Kürzels CLM verdanke – hat im Interview mit Max Knieriemen davor gewarnt, die Diskussion auf eine solche weltanschauliche Ebene zu ziehen. Dem sei an dieser Stelle entschieden widersprochen. Denn im Kern geht es um weltanschauliche Fragen: Ist die Welt um uns herum etwas, das wir uns untertan machen dürfen (oder sogar müssen)? Oder sollten wir sie (wie auch die von uns geschaffenen Artefakte) grundsätzlich als beseelt betrachten und danach streben, mit ihr im harmonischen Austausch zu leben?

Letzteres entspricht der Weltsicht vieler Völker, die von europäischen Eroberern unterdrückt und teilweise vernichtet wurden. Ihr wieder mehr Geltung zu verschaffen, ist nicht nur eine notwendige Konsequenz aus der Aufarbeitung der Kolonialgeschichte. Sie lässt sich auch gut mit wissenschaftlichen Erkenntnissen vereinbaren, wie etwa Robin Wall Kimmerer in ihrem bemerkenswerten Buch Geflochtenes Süßgras zeigt. Auf dem Weg in eine Zukunft, die mehr und mehr auch von künstlichen Agenten bevölkert sein wird, bietet sie damit wahrscheinlich eine bessere spirituelle Orientierung als etwa das Christentum.

(bme)