Missing Link: Wie die ESA-Sonde Gaia die Astronomie revolutioniert

Seite 2: Unvorstellbar viele Daten

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Um eine genaue Positionsmessung insbesondere für lichtschwache Sterne zu erhalten, durchläuft jeder Stern nacheinander 9 CCDs im Astrometriefeld, deren Messungen kombiniert werden. 7 übereinander liegende CCD-Reihen erfassen das gesamte Blickfeld der Teleskope. Weitere Gruppen von CCDs messen die Sternhelligkeiten im roten und blauen Spektralbereich, woraus sich die Farbe und damit die Oberflächentemperatur ableiten lassen, sowie kurze Sternspektren, die von einem vorgeschalteten Gitterspektroskop erzeugt werden. Anhand der Verschiebung der Spektrallinien im Sternenlicht lässt sich die Geschwindigkeit auf den Beobachter zu oder von ihm weg messen (die Radialgeschwindigkeit).

Zusammen mit der als Eigenbewegung bezeichneten, innerhalb von Jahren messbaren Fortbewegung eines Sterns über den Himmel und seiner Entfernung ergibt sich seine Geschwindigkeit durch den Raum. Weiterhin gibt es pro Teleskop je eine separate Spalte von Skymapper-CCDs, die für jeden zu messenden Stern zu Beginn des Scans vermerken, von welchem Teleskop sein Licht stammt und mit deren Hilfe die überhaupt zu messenden Sterne ausgewählt werden – zu schwache Sterne und flüchtige Blitze kosmischer Strahlen werden aussortiert. Schließlich gibt es CCDs zur Überwachung der Justierung der Optiken.

Die am 19. Dezember 2013 gestartete Sonde driftet um den Lagrange-2-Punkt von Erde und Sonne, einem 1,5 Millionen km jenseits der Erdbahn gelegenen Ort auf der Linie Sonne-Erde, an dem sich die Schwerkraft von Erde und Sonne derart addieren, dass ein Objekt dort synchron mit der Erde um die Sonne kreisen kann. Das Heck der Sonde mit den Solarzellen zur Stromversorgung und der Kommunikationsantenne weist permanent zur Sonne und Erde hin, wobei die Drehachse im Winkel von 45° zur Sonnenrichtung geneigt ist und eine langsame, 63 Tage dauernde Taumelbewegung um diese herum vollführt.

Durch die Taumelbewegung der Sonden-Rotationsachse um die Richtung zur Sonne herum wird der Himmel streifenweise abgetastet.

(Bild: Gaia Collaboration, arXiv:1609.04153)

Gemessene Positionen sind nur in Scanrichtung hochgenau. Aber dank der Taumelbewegung wird jeder Stern mehrfach aus verschiedenen Scan-Richtungen überstrichen, so dass aus vielen eindimensionalen Scans zweidimensionale Himmelskoordinaten ermittelt werden können. Jeder Stern soll am Ende der Primärmission im Schnitt 70 Mal überstrichen worden sein. So soll im 4. Datensatz eine Präzision von 9 Mikrobogensekunden für einen Stern mittlerer Helligkeit von 15. Größenklasse erreicht werden. Dies entspricht etwa der Helligkeit der Sterne, die in einem Teleskop mit 45 cm Objektivdurchmesser gerade noch zu erkennen sind; Gaia misst jedoch noch Sterne, die 200mal lichtschwächer sind, knapp 1,7 Milliarden Sterne. Zum Vergleich: Ihr Vorgänger, der Satellit Hipparcos, vermaß in den 1990er Jahren die Örter, Parallaxen und Eigenbewegungen von 118000 Sternen auf 1 Millibogensekunde und von rund 2 Millionen Sternen auf 20 Millibogensekunden genau.

Gaias erster Datensatz wurde bereits im September 2016 veröffentlicht und enthielt Positionen von 1,1 Milliarden Sternen auf der Basis der ersten 14 Monate Beobachtungsdauer. Da diese Zeit für Parallaxen und Eigenbewegungen noch zu kurz war, musste hierfür auf Daten der Hipparcos-Mission zurückgegriffen werden, die nur für 2 Millionen Sterne vorhanden waren. Erst der am 25. April dieses Jahres veröffentlichte 2. Datensatz DR2 enthält ausschließlich von Gaia ermittelte Daten – 1,7 Milliarden Sternörter, 1,3 Milliarden Parallaxen und Eigenbewegungen, 161 Millionen Oberflächentemperaturen und 7 Millionen Radialgeschwindigkeiten. 1,7 Milliarden Sterne klingt nach einer ganzen Menge, das sind aber nicht einmal 2 Prozent aller Sterne der Milchstraße – warum ist das also so bedeutsam?

Weil in der Astronomie die Entfernung alles ist – sie macht aus Sternhelligkeiten Sonnenleuchtkräfte, die es erlauben, den Energieumsatz und die Lebenserwartung eines Sterns zu berechnen. Aus der Farbtemperatur und der Leuchtkraft folgen Oberfläche und Durchmesser des Sterns – auch im größten Teleskop bleiben Sterne strukturlose Lichtpunkte. Entfernungen erlauben es, bei Doppelsternen die Bahnradien und somit aus der Bewegung der Sterne umeinander ihre Massen zu bestimmen.

Entfernungen ermöglichen es, über die aus der an Doppelsternen kalibrierten Masse des jeweiligen Sterntyps auf die Masse eines unsichtbaren Planeten zurückzuschließen, der mit seiner Schwerkraft am Stern zerrt, so dass sich dessen Spektrallinien messbar verschieben. Über direkt gemessene Parallaxen können wir die Leuchtkraft bestimmter pulsierender Sterne bestimmen, deren Pulsationsdauer in fester Beziehung zur Leuchtkraft steht, so dass wir anhand der Helligkeit solcher Sterne in Nachbargalaxien deren Entfernung messen können und lernen, dass die Milchstraße 100.000 Lichtjahre durchmisst und andere Galaxien Millionen von Lichtjahren weit entfernt sind.

Leuchtet in der einen oder anderen Nachbargalaxie eine Supernova eines bestimmten, stets gleich hellen Typs auf, so können wir auch deren Helligkeit in Beziehung zur Entfernung setzen und damit Entfernungen quer durch das beobachtbare Universum messen. Daraus lernen wir, dass es beschleunigt expandiert und vor knapp 14 Milliarden Jahren entstanden ist.

Kurzum – ohne Entfernungen wäre der Himmel für uns eine perforierte Kugelschale, durch deren Löcher das dahinter lodernde Feuer flackert – mit Entfernungen finden wir uns in einem gewaltigen Universum wieder, dessen Werdegang sich uns offenbart. Genau deshalb ist Gaia so bedeutsam – nie zuvor konnten wir Entfernungen und die Bewegungen von Objekten am Himmel über so große Distanzen bestimmen.