Übersehene Gefahr: Wenn Gletscherseen überlaufen

Überschwemmungen durch plötzliche Ausbrüche von Gletscherseen bedrohen weltweit etwa 15 Millionen Menschen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 11 Kommentare lesen
Glistening,Powder,Snow,On,The,Schneeferner,Glacier,On,The,Zugspitze

Schneeschlitten auf dem Schneeferner Gletscher auf der Zugspitze.

(Bild: Andreas Hermanspann/Shutterstock.com)

Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Hanns-J. Neubert
Inhaltsverzeichnis

Wenn sich Gletscher zurückziehen, hinterlassen sie Geröll-Dämme, die Moränen. Dahinter staut sich das abfließende Eiswasser immer höher auf. Für die Menschen und Siedlungen in den Tälern ist das eine Gefahr, weil Wasser über diese Moränen hinwegströmen kann oder die Dämme aufweicht. Mitunter brechen sie wegen des hohen Wasserdrucks auch sehr schnell und ohne Vorwarnzeit. Wann so etwas passiert, ist kaum vorhersehbar.

Allein in den nördlichen Anden von Peru, der höchsten Gebirgskette der Tropen, kamen in den vergangenen 70 Jahren mehrere tausend Menschen bei kleineren dieser Ausbrüchen ums Leben. Es dürfte aber schlimmer werden, denn die Klimaerwärmung lässt Gebirgsgletscher immer schneller schmelzen, und damit die Seen am Fuße der Gletscher weiter ansteigen. Mehr als ein Drittel des derzeit beobachteten Eisverlustes der Gebirgsgletscher ist bisher ja nur eine verzögerte Reaktion auf die Erwärmung der vergangenen Jahrzehnte.

Weltweites Aufsehen erregte Saúl Luciano Lliuya, ein Andenbauer und Bergführer aus der Andenstadt Huaraz, als er 2015 den deutschen Energiemulti RWE verklagte. Denn der Palcacocha-Gletschersee, gespeist vom Eiswasser des schmelzenden Pastoruri-Gletschers, bedroht seit einigen Jahren seinen Heimatort Huaraz. Lebten hier vor 80 Jahren noch 12.000 Menschen, so ist die Stadt inzwischen auf 125.000 Einwohner angewachsen. In dieser Zeit stieg die Wassermenge des Palcacocha-Sees von 515.000 Kubikmetern auf 17 Millionen heute – trotz der Versuche, ihn 1974 zumindest etwas zu entwässern. Sollte der Moränendamm brechen und sich eine Flutwelle durch die Stadt wälzen, wäre das der Tod zahlreicher Menschen und der Verlust der Existenzgrundlage der Überlebenden.

Die Ursache der Schmelze des Pastoruri-Gletschers ist ohne Zweifel die menschengemachte Klimaerwärmung, wie Forscher der Universität Oxford in einer so genannten Zuordnungs-Studie von 2021 beweisen konnten.

Daran sei auch RWE schuld, so Lliuya. Das Unternehmen soll sich nämlich mit 0,5 Prozent an den Schutzmaßnahmen beteiligen, die nötig sind, um den Gletschersee zu stabilisieren. Denn so hoch sei der Anteil von RWE an der Klimaerwärmung, argumentieren Kläger und Anwältin.

Mehr rund um den Klimawandel

Die Anden sind in der Tat einer der Hotspots von gefährlichen Gletscherseen auf der Erde. Deren Zahl hat in den vergangenen 20 Jahren um 93 Prozent zugenommen. Weit schlimmer sieht es allerdings in Asien aus. In den Hochgebirgsregionen dieses Erdteils hat die Zahl der Gletscherseen zwar nur um 37 Prozent zugenommen, aber auch die Bevölkerung nahm stark zu – und damit die Verwundbarkeit des gesamten sozialen und wirtschaftlichen Lebens. Wasserkraftwerke sorgten nämlich für Strom und Infrastruktur, Bergtourismus verschaffte Einkommen und auch Landwirtschaftsflächen ließen sich neu erschließen.

Eine Gruppe von Wissenschaftlern um Caroline Taylor aus England und Tom R. Robinson aus Neuseeland versuchten jetzt in einer in "Nature" erschienen Arbeit erstmals abzuschätzen, wie sehr Gletschersee-Ausbrüche die Existenz von Menschen in unterschiedlichen Erdregionen gefährden. Dazu nutzten sie eine Reihe verschiedener geographischer, sozialwissenschaftlicher und wirtschaftlicher Datenbanken. Die Informationen daraus kombinierten sie und konnten so zeigen, wie hoch die soziale und wirtschaftliche Anfälligkeit der Bevölkerungen ist, aber auch wie fähig sie sind, mit Katastrophen umzugehen. Sie zogen zur Berechnung der Anfälligkeit drei Indizes heran: Den Index der Korruptionswahrnehmung (CPI), der menschlichen Entwicklung (HDI) und der sozialen Verwundbarkeit (SVI).

Zwei Ausbruchsereignisse, die zwar dieselbe Anzahl von Menschen betreffen und zu denselben materiellen Schäden führen, wie eine weggespülte Fußgängerbrücke oder Straße, können je nach sozialem, politischem, kulturellem und wirtschaftlichem Kontext des Landes oder sogar des Einzugsgebiets, in dem sie sich ereignen, grundlegend unterschiedliche Folgen haben, stellten die Wissenschaftler fest.

Insgesamt untersuchten die Forscher 1089 Gletscherbecken in 30 Ländern, deren Auslaufstrecken entlang der Täler bis zu 120 Kilometer weit flussabwärts reichen. Wenn eine Überschwemmungswelle in so einem Talbecken herabdonnert, schwächen sich die Ablaufspitzen zwar relativ schnell ab, aber noch in 50 Kilometern Entfernung werden die Menschen direkt bedroht.

Mehr als die Hälfte der weltweit exponierten 15 Millionen Menschen lebt in nur vier Ländern: Indien, Pakistan, China und Peru. In den asiatischen Hochgebirgen wohnt rund eine Million Menschen im Umkreis von nur zehn Kilometern um Gletscherseen.

Diese Bevölkerungen würden unter einem Gletschersee-Ausbruch am meisten leiden. Denn: "Allgemeinen weisen die Anden und asiatischen Hochgebirgsregionen das höchste Niveau an Korruption und sozialer Anfälligkeit, und das niedrigste Niveau an menschlicher Entwicklung auf, während das Gegenteil für die europäischen Alpen, die nordamerikanischen Kordilleren, die Hocharktis und die abgelegenen Länder zutrifft", schreiben die Autoren.

Wie sich die Gefahr von Überschwemmungen durch die Schmelzwasserseen in Zukunft verändern könnte, bleibt unklar. Da die Gletscher aufgrund des Klimawandels weiter zurückgehen, werden sich bestehende Gletscherseen deshalb ausdehnen und viele neu entstehen. Dadurch ändert sich auch das räumliche Muster der Überschwemmungsgefahren. Erste Hinweise auf die künftige Entwicklung von Gletschersee-Ausbrüchen liefert beispielsweise eine Studie unter Beteiligung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK). Die Forschenden hatten mehr als 1.500 weltweite Gletscherseeausbrüche seit dem Jahr 1900 untersucht. Ihr geografischer Fokus lag auf den Anden, dem nordwestlichen Nordamerika, einschließlich Alaska und British Columbia. Als Faktoren stützten sie sich auf Wasservolumen, Spitzenabfluss, Zeitpunkt und Höhe des Quellsees. So waren sie in der Lage, die Entwicklung im Laufe der Zeit abzuschätzen.

"Die beschleunigte Gletscherschmelze der letzten Jahrzehnte hat dazu geführt, dass Gletschersee-Ausbrüche aus eis-gedämmten Seen an Volumen und Abfluss abnahmen. In den Hochgebirgen Asiens treten sie allerdings heute etwa elf Wochen früher auf als im Jahr 1900, in den europäischen Alpen zehn Wochen und im nordwestlichen Nordamerika sieben Wochen früher. Außerdem haben wir herausgefunden, dass es inzwischen auch in höheren Lagen Seen mit dokumentierten Ausbrüchen gibt. In den Anden, Island und Skandinavien liegen sie jetzt im Durchschnitt 250 bis 500 Meter höher als vor 120 Jahren”, sagt Dr. Georg Veh von der Universität Potsdam, Hauptautor der in "Natur" erschienen Studie.

Die Autorinnen und Autoren beider Nature-Studien regen an, die Entwicklung zu überwachen und fordern, Frühwarnsysteme zu verbessern, stärkere Öffentlichkeitsarbeit zu betreiben und Evakuierungen zu trainieren, um menschliche Katastrophen so weit wie möglich zu reduzieren.

Allerdings fehlten in Entwicklungsländern die Ressourcen für eine Schadensbegrenzung. Hinzu komme mangelndes Bewusstsein für die Gefahr, was die Fähigkeit beeinträchtige, sich auf potenzielle Gletschersee-Katastrophen vorzubereiten oder sich danach davon zu erholen, warnen die Forscher.

(jle)