Ukraine-Krieg: Wie Russland sich seine Tech-Industrie zerstört

Russlands Krieg gegen die Ukraine beschleunigt den Niedergang einer ohnehin angeschlagenen Branche. Einstige Erfolgsgeschichten? Ausgebremst. Beispiel: Yandex.

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(Bild: Maxim Gaigul/Shutterstock.com)

Lesezeit: 22 Min.
Von
  • Masha Borak
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Sieben Tage nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine packte Wladimir Belugin die Sachen seiner Familie ein, kündigte den Mietvertrag für die Wohnung in Moskau, nahm seine Kinder aus dem Kindergarten und startete ein neues Leben außerhalb seiner Heimat. Wenig später kündigte er dann auch noch seinen Posten als Chief Commercial Officer für kleine und mittlere Unternehmen bei Yandex, dem russischen Pendant zu Google. Die Firma gilt als wichtigste Tech-Firma im Land.

Der Krieg bedeute, dass sich in Russland alles ändern werde, sowohl für ihn als auch für sein Unternehmen, sagte Belugin von seinem neuen Zuhause in Zypern aus: "Man muss diese neuen Regeln akzeptieren, weil es in Russland letztlich überhaupt keine Regeln mehr gibt."

Belugin war bei weitem nicht der einzige Tech-Mitarbeiter, der das Land verließ. In den Monaten nach Beginn der Invasion kam es in Russland zu einem Massenexodus von IT-Experten. Nach Angaben der Regierung verließen im Jahr 2022 rund 100.000 Digital-Spezialisten Russland, das sind etwa 10 Prozent der Beschäftigten im technischen Bereich – eine Zahl, die wahrscheinlich eher klein gerechnet wurde. Parallel zu diesen Abgängen schränkten mehr als 1.000 ausländische Unternehmen ihre Tätigkeit in Russland ein, was zum Teil auf die wohl umfassendsten Sanktionen zurückzuführen war, die jemals gegen eine große Volkswirtschaft verhängt wurden.

Seit Beginn des Ukraine-Krieges ist nun über ein Jahr vergangen. Es wurden mehr als 8.300 zivile Todesopfer gezählt. Die Tech-Arbeiter, die alles hinter sich gelassen haben, um aus Russland zu fliehen, warnen davor, dass das Land auf dem besten Weg ist, eine Art Dorf zu werden: abgeschnitten von der globalen Tech-Industrie, von Forschung, Finanzierung, dem wissenschaftlichen Austausch und wichtigen technischen Komponenten. Inzwischen hat Yandex, einer der größten Digitalerfolge des Landes, begonnen, sich zu zerfasern und verkauft lukrative Geschäftsbereiche an VKontakte (VK), einen Konkurrenten, der von staatlichen Unternehmen kontrolliert wird.

"Ich hatte das Gefühl, dass mir mein Land gestohlen wurde", sagt Igor, leitender Angestellter von VK, der noch Familie in Russland hat und deshalb darum bat, seinen Namen zu ändern, damit er offen sprechen kann. Als der Krieg begann, so sagt er, hatte er das Gefühl, dass ihm 20 Jahre der Zukunft Russlands auf einen Schlag weggenommen wurden.

Im Land war zuvor der Tech-Sektor einer der wenigen Bereiche, in dem die Menschen das Gefühl hatten, dass sie aufgrund ihrer Fähigkeiten und nicht nur aufgrund ihrer Beziehungen erfolgreich sein konnten. Außerdem herrschte in der Branche ein Geist von Offenheit: Russische Unternehmer warben internationale Finanzmittel ein und schlossen Geschäfte in der ganzen Welt ab. Eine Zeit lang schien selbst der Kreml diese Offenheit zu begrüßen und lud internationale Unternehmen ein, in Russland zu investieren.

Doch schon lange vor dem Krieg zeigten sich erste Risse in der russischen Technologiebranche. Seit mehr als einem Jahrzehnt versucht die Regierung, Russlands Internet und seine mächtigsten Tech-Unternehmen in die Schranken zu weisen – und bedroht damit eine Branche, die einst versprach, das Land in die Zukunft zu führen. Experten, mit denen MIT Technology Review sprechen konnte, sagen, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine den Schaden, der bereits angerichtet wurde, noch beschleunigte. Die größten Tech-Unternehmen des Landes seien weiter in die Isolation und ins Chaos getrieben worden. Die Bürger wiederum wurden in das streng kontrollierte heimische Internet eingesperrt, in dem Nachrichten von offiziellen Regierungsquellen stammen und die freie Meinungsäußerung stark eingeschränkt ist.

"Die russische Führung hat sich für einen völlig anderen Weg der Entwicklung des Landes entschieden", sagt Ruben Enikolopov, Assistenzprofessor an der Barcelona School of Economics und ehemaliger Rektor der russischen New Economic School. Die Isolation wurde zu einer strategischen Entscheidung, sagt er.

Die Technologiebranche sei zwar nicht die größte Branche Russlands, aber eine der wichtigsten Triebkräfte der Wirtschaft, so Enikolopov. Zwischen 2015 und 2021 war der IT-Sektor in Russland für mehr als ein Drittel des BIP-Wachstums verantwortlich und erreichte im Jahr 2021 3,7 Billionen Rubel (47,8 Milliarden US-Dollar). Obwohl dies nur 3,2 Prozent des gesamten BIP ausmachte, glaubt Enikolopov, dass Russlands Wirtschaft stagnieren wird, wenn die Technologiebranche ins Hintertreffen gerät. "Ich denke, dies ist wahrscheinlich einer der größten Schläge für das zukünftige Wirtschaftswachstum in Russland."

Am 24. Februar 2022, dem Tag, an dem die russische Invasion in der Ukraine begann, war die Stimmung in dem mit roten Steinen und Glas verkleideten Yandex-Büro im Süden Moskaus angespannt. Anastasiia Diuzharden, die damalige Leiterin der Abteilung Content Marketing bei Yandex Business, war dort – wie auch eine Reihe anderer Mitarbeiter –, sagt aber rückblickend, sie habe nur wenige Menschen arbeiten sehen. Im Raucherbereich des Gebäudes befanden sich fünfmal so viele Menschen wie sonst. Einige Mitarbeiter verließen noch am selben Tag das Land.

Als die Nachricht von der Invasion im Büro die Runde machte, wurden Diuzharden und ihre Kollegen zu einem "khural", einer wöchentlichen Sitzung, gerufen. Dort, so erzählt sie, versicherte ihnen Tigran Khudaverdyan, Exekutivdirektor und stellvertretende CEO von Yandex, dass das Unternehmen weitermachen werde.