Wie Künstliche Intelligenz eine neue koloniale Herrschaft etabliert

Künstliche Intelligenz kann durch Übersetzung Kulturen verbinden oder mühsame Routinetätigkeiten übernehmen. Doch greift sie auf koloniale Muster zurück?

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Inhaltsverzeichnis

Ist das Zufall oder hat es Methode? Eine Gesichtserkennung, die bei Afroamerikanern sehr viel ungenauer funktioniert als bei Weißen, identifiziert einen Mann zu Unrecht als Verdächtigen in einem Einbruchsfall. In Südafrika wird ausgerechnet in den schwarzen, armen Vorstädten ein enges Überwachungsnetz aufgebaut, das eine neue Form "digitaler Apartheid" etablieren könnte. Im krisengebeutelten Venezuela nutzen internationale Konzerne die Notlage der Menschen aus, die als Klickworker den Rohstoff produzieren, der die Technologie antreibt: annotierte Daten für das Training weiterer KIs. Die Liste lässt sich beliebig erweitern.

Künstliche Intelligenz

Eine wachsende Anzahl von Akademikerinnen und Akademikern argumentiert: Nein, das ist kein Zufall. Künstliche Intelligenz, die Technologie, die wie kaum eine andere den logischen, unbestechlichen und objektiven analytischen Geist, den wissenschaftlichen Fortschritt und das amerikanische Streben nach Glück repräsentiert, lässt sich nicht aus dem Kontext lösen, in dem sie entwickelt wurde. Ihre Prämissen, ihre wissenschaftlichen Grundlagen, ihre Infrastruktur, die Daten, mit der sie trainiert wird – all diese Elemente sind tief verwurzelt in einem Weltbild, das auf dem Glauben an die Überlegenheit des weißen Mannes über den Rest der Welt beruht. Nur wenn dieses Denken kritisch aufgearbeitet, die Wissenschaft "entkolonisiert" werde, könne sie ihrem eigenen Anspruch, dem "Wohl der gesamten Menschheit zu dienen" (OpenAI), tatsächlich gerecht werden. Was ist dran an dieser Idee? Kann ein kritisches Bewusstsein über die geistigen Wurzeln der Technologie dabei helfen, eine bessere KI zu entwerfen, die wirklich allen Menschen nützt – nicht nur einer kleinen, privilegierten Minderheit?

Auf den ersten Blick scheint der Zusammenhang zwischen Kolonialismus und KI konstruiert. Was soll eine politische Praxis, die vom 17. bis zum 20. Jahrhundert reichte, mit einer der Schlüsseltechnologien des 21. Jahrhunderts zu tun haben? Aber "die Praxis des Kolonialismus ist immer noch sehr lebendig", sagt Kanta Dihal, die an der University of Cambridge das Forschungsprojekt "Decolonizing AI" leitet. "Selbst in den Ländern, in denen der Kolonialismus schon einige Jahrzehnte zurückliegt, wie etwa in weiten Teilen Afrikas, wirkt sich das Erbe des Kolonialismus auf das tägliche Leben aus. Auf alles, von weitreichenden strukturellen Ungleichheiten bis hin zu ganz praktischen täglichen Entscheidungen." In der Literatur ist das Konzept als "Kolonialität" benannt. Es beschreibt die "Fortsetzung der Machtdynamik", die durch "die historischen Prozesse der Enteignung, Versklavung, Aneignung und Ausbeutung" in Gang gesetzt worden ist und "die Struktur der modernen Welt" geprägt hat.