Die X-Akten der Astronomie: Die Geheimnisse des Walnuss-Monds

Seite 3: Eine tragfähigere Theorie

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Andrew Dombard, Andrew Cheng, William McKinnon und Jonathan Kay schlugen 2012 eine modifizierte Variante von Levisons Theorie vor. Aus einer Arbeit von Paul Schenk entnahmen sie das Höhenprofil von Iapetus in der Gegend der höchsten Erhebungen bei den Toledo Montes zwischen 140° und 170° Länge, siehe folgende Grafik. Das umgebende Gelände zeigt keinerlei Spuren davon, vom Bergkamm in die Tiefe gedrückt worden zu sein.

Stereoskopisch ermittelte Querschnitte des Höhenprofils Iapetus’ vom Südpol zum Nordpol zwischen 140° und 170° Länge (graue Linien), sowie der Mittelwert derselben (schwarz) aus einer Arbeit von Paul Schenk. Auf der waagerechten Achse der Abstand zum Äquator (negative Wert liegen im Süden), auf der senkrechten Achse die Höhe in Kilometern. Das Profil zeigt keine Spuren eines Einsinkens des umgebenden Geländes unter der Last des äquatorialen Gebirgskamms.

(Bild: Dombard et al., AGU.org, free access)

Was sagt dies über die Entstehung des äquatorialen Gebirgskamms aus? Dombard et al. führten dazu Finite-Elemente-Simulationen der Verformung eines Eismantels unter der Last eines Gebirgskamms bei verschiedenen Temperaturen durch. Die Autoren modellierten eine konstante Oberflächentemperatur von 90 K und mehrere unterschiedliche Temperaturen im Gesteinskern, dessen Wärme durch Leitung im Eis nach außen transportiert wird. So wollten sie erschließen, wann der Kamm ungefähr entstanden sein könnte, denn Iapetus war nach seiner Entstehung noch durch die Kollisionen der Asteroiden, aus denen er entstand, und radioaktiven Zerfall von Uran aufgeheizt und dementsprechend war das Eis weniger tragfähig als später, nachdem Iapetus abgekühlt war.

Die nächste Grafik zeigt die Ergebnisse zweier Simulationen. Demnach wäre ein 20 Kilometer hoher und 200 Kilometer breiter Gebirgskamm bei einem Wärmefluss von 18 Milliwatt pro Quadratmeter binnen 10 Millionen Jahren komplett eingesunken und zerflossen. Bei einem Wärmefluss von 3 mW/m² hätte sich an der Basis ein 5 Kilometer tiefer Graben gebildet und der Kamm wäre um diesen Betrag eingesunken und niedriger geworden. Zwar zeigt die Querschnittsgrafik oben bei -400 Kilometer einen vergleichbaren Graben, aber dieser ist wesentlich weiter entfernt, nur einseitig und daher sicher nicht auf das Einsinken des Kamms zurück zu führen. Um ein Einsinken auf weniger als 1 Kilometer Tiefe zu beschränken, muss der Wärmefluss zur Zeit seiner Entstehung kleiner als 1 mW/m² gewesen sein. Dies war gemäß den Autoren erst eine Milliarde Jahre nach der Entstehung von Iapetus der Fall. Da war die Einschlagsfrequenz von Asteroiden schon auf das heutige Niveau abgesunken und das mutmaßliche "Große Bombardement" (welches ohnehin eher das innere Sonnensystem betroffen hätte) schon Erdgeschichte.

Simulation der Verformung eines ursprünglich 20.000 Meter hohen und an der Basis 200 Kilometer breiten Gebirgskamms (gestrichelt, "Initial") über 10 Millionen Jahre für einen Wärmefluss durch Iapetus’ 400 Kilometer starken Eismantel von 3 Milliwatt pro Quadratmeter (dünne Linie) und 18 Milliwatt pro Quadratmeter (breite Linie). Beim hohen Wärmefluss versinkt der Kamm fast komplett und erreicht am Ende kaum mehr 2 Kilometer Höhe. Beim niedrigen Wärmefluss sinkt er an der Basis um 5.000 m in die Tiefe, bleibt aber ansonsten erhalten. Der äquatoriale Kamm auf Iapetus ist überhaupt nicht sichtbar abgesunken, was auf einen noch niedrigeren Wärmefluss von höchstens 1 mW/m² schließen lässt.

(Bild: Dombard et al., AGU.org, free access)

Demnach müsste Iapetus’ äquatorialer Kamm vergleichsweise jung sein. Wie ließe sich die verzögerte Entstehung des Kamms erklären? Die Hypothese von Dombard und seinen Kollegen wurde durch eine solche der Entstehung des Pluto-Charon-Systems motiviert. Darin wird angenommen, dass Charon einst ein eigener Zwergplanet war, der mit Pluto streifend kollidierte. In Plutos und Charons Entfernung von der Sonne sind die Bahngeschwindigkeiten der Objekte klein und unterscheiden sich kaum, so dass Charon nicht völlig zertrümmert wurde, sondern seinen Zusammenhalt wahren konnte. Der Zusammenstoß bremste Charon so weit ab, dass er im Orbit um Pluto verblieb. Die beiden Objekte bremsten ihre Rotation gegenseitig und rotieren heute doppelt gebunden, d.h. sie zeigen sich gegenseitig stets die gleichen Hemisphären.

Analog nehmen Dombard et al. an, dass in der Entstehungsphase des Saturn-Satellitensystems ein großer Saturnmond von ca. 200 Kilometer Durchmesser streifend mit Iapetus kollidierte, die Kollision halbwegs intakt überlebte und in einen Orbit um Iapetus eingebremst wurde. Ausgehend von der ursprünglich schnelleren Rotation von Iapetus hätte der Submond diese fortan verlangsamt.

Wenn der Submond Iapetus retrograd, also gegenläufig gegen dessen Rotation umkreist hätte, wäre er wegen der Erhaltung des Drehimpulses näher an Iapetus heran gerückt, denn er hätte Drehimpuls an Iapetus abgeben müssen, so dass Iapetus langsamer in Gegenrichtung rotierte. Je tiefer er gesunken wäre, desto schneller hätte er dann Iapetus umkreisen müssen, denn die Kreisbahngeschwindigkeit nimmt mit schrumpfendem Radius zu, der Bahnumfang zugleich ab. Die zunehmende Geschwindigkeitsdifferenz zwischen Submond und Iapetus hätte die Bremswirkung schnell vergrößert. Bei Erreichen der Roche-Grenze hätte es den Submond zerlegt und es wäre ein Ring entstanden, der schließlich wie in Ips Theorie auf den Mond gestürzt wäre.

Hätte der Submond Iapetus prograd, also rechtläufig mit dessen Rotation umlaufen, dann hätte er sich zunächst von Iapetus entfernt, weil er Drehimpuls von diesem aufgenommen hätte. Bei etwa 19-21 Iapetus-Radien hätten beide dann kurzfristig gebunden rotiert: Iapetus hätte sich in derselben Zeit von ca. 11-13 Tagen einmal um sich selbst gedreht, in der ihn der Submond einmal umkreiste. Das System hätte wie Pluto und Charon dann eigentlich stabil bleiben können – wenn der Saturn nicht gewesen wäre. Der Riesenplanet hätte Iapetus’ Rotation weiter verlangsamt, um ihn schließlich in die heutige 79-tägige gebundene Rotation um den Riesenplaneten zu zwingen. Während Iapetus zunehmend langsamer rotierte als der Submond ihn umkreiste, wäre die Entwicklung analog zum retrograden Fall verlaufen und Iapetus hätte dem Submond Drehimpuls entzogen, so dass dieser sich wieder dem Saturntrabanten genähert hätte, den er immer schneller hätte umkreisen müssen, bis er dann an der Roche-Grenze zerbrochen und abgestürzt wäre.

Im folgenden Diagramm sind die von Dombard und Kollegen errechneten Entwicklungslinien verschiedener Submond-Szenarien bis zum Crash aufgetragen. Ausgehend von 5, 10, 15 oder 20 Iapetus-Radien beim Start entwickelt sich der Bahnradius bei retrogradem Umlauf entlang der gestrichelten Linien und bei progradem Umlauf entlang der durchgezogenen. Retrograde Umläufe führen nur bei einem Start von 20 Radien Abstand zu einer Lebensdauer von über einer (100) Milliarde Jahren während die prograden Szenarien in allen Fällen 1,5 bis 3 Milliarden Jahre bis zum Crash benötigen.

Entwicklung der großen Bahnhalbachse (mittlere Entfernung in Iapetus-Radien = 750 Kilometer) eines hypothetischen Iapetus-Satelliten über die Zeit (in Milliarden Jahren; logarithmische Skala von 10-5 = 10.000 Jahre bis 101 = 10 Milliarden Jahre). 4 Szenarien starten links bei 5, 10, 15 und 20 Iapetus-Radien. Die gestrichelten Linien entsprechen retrograden Umläufen, die durchgezogenen prograden. Die retrograden Bahnen verfallen schnell, da die auf den Satelliten wirkende Bremskraft mit fallendem Abstand rasch anwächst. Nur bei einem Start bei 20 Radien überlebt der Satellit mehr als eine Milliarde Jahre.
Die prograden Bahnen wachsen zunächst. An der Spitze der Kurve herrscht kurzzeitig Stillstand und Iapetus rotiert synchron mit dem Umlauf des Satelliten. Da Saturn die Rotation Iapetus’ jedoch weiter verlangsamt und der Satellit somit schneller kreist als Iapetus rotiert, wird er von Iapetus auf seiner Bahn abgebremst und sein Orbit verfällt dann genau so rasch wie im retrograden Fall. Die Lebensdauern des Satelliten liegen in diesem Fall zwischen 1,5 und 3 Milliarden Jahren.

(Bild: Dombard et al., AGU.org, free access)

Und das ist genau die Zeit, die Iapetus brauchte, um so weit abzukühlen, dass er den 20 km hohen Bergkamm tragen konnte. Dies erklärt, warum der Gebirgskamm nur auf Iapetus entstand – weil Iapetus eine große Hill-Sphäre besitzt, die verhinderte, dass sein Satellit verloren ging und dieser so lange überleben konnte, bis die Oberfläche fest genug war, den äquatorialen Kamm tragen zu können. Nur wenige andere geeignete Kandidaten existieren im Sonnensystem.

Dazu gehören neben Iapetus die Kallisto des Jupiter, Titan beim Saturn, sowie Titania und Oberon beim Uranus. Bei Kallisto fanden die Missionen Voyager und Galileo keinen äquatorialen Kamm. Titan hat eine Atmosphäre mit erodierenden Niederschlägen, Wind und Flüssen aus Methan, sowie tektonischen Prozessen, die einen hypothetischen ursprünglichen äquatorialen Kamm hätten einebnen können. Und von Titania und Oberon gibt es wegen der Orientierung der Polachsen der Monde in Richtung zur Sonne beim Vorbeiflug der Voyager-2-Sonde kaum gute Aufnahmen der Äquatorregionen – hier müssen wir noch auf eine zukünftige Mission warten.

Die drei kleinen Saturnmonde Atlas, Daphnis und Pan haben ebenfalls teils riesige Äquatorialkämme, bei denen es sich um aufgesammelte Teilchen aus Saturns Ringen handelt. Die Monde umkreisen Saturn in Lücken zwischen den Ringen.

(Bild: NASA/JPL-Caltech/Space Science Institute)

Die Hypothese von Dombard, Cheng, McKinnon und Kay klingt plausibel und funktioniert auf dem Papier, aber es ist bisher kein zweiter Präzedenzfall zur Überprüfung bekannt und die starke Verkraterung des Kamms spricht eher für eine Entstehung in der Frühphase des Sonnensystems. Kurz vor Ende ihrer Mission im Jahr 2017 flog die Cassini-Sonde dann ganz nahe an die Ringe heran und sendete uns Bilder von drei kleinen Saturnmonden, deren Gestalt die Autoren 2012 noch nicht kannten: Atlas, Daphnis und Pan, die gewaltige Äquatorialkämme aufgetürmt haben, weil sie innerhalb der flachen Saturnringe kreisen und Ringmaterial, das mit ihnen kollidierte, am Äquator angesammelt haben. Vielleicht ist der Äquatorialkamm des Iapetus ähnlich entstanden – oder auch ganz anders. Wir wissen es nicht. Was für das Breakthrough-Listen-Team Grund genug war, Iapetus in ihre Liste ungeklärter Anomalien aufzunehmen.

Quelle:

(mho)