Missing Link: KI - die Künstlichen Idioten des digitalen Kapitalismus

Seite 2: Algorithmen-Fabrik

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In China zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab. "Made in China 2025" heißt der strategische Plan Chinas, den Premierminister Li Keqiang und sein Kabinett im Mai 2015 beschlossen, der im Kern die Schaffung einer moderne Netzwerkökonomie umfasst. KI soll dabei eine zentrale Rolle spielen: Bis 2030 will China weltweit führend sein, und sie haben gute Chancen, das auch zu schaffen.

Aus zwei Gründen hat China Vorteile im ökonomischen Wettstreit rund um KI-Technologien. Zum einen kann China mit seinem Staatskapitalismus 3.0 aufwarten, der als kennzeichnend für große Schwellenländer identifiziert wurde, geht aber in der Intensität der strategischen Planung und seiner Verquickung mit autoritärer Überwachungspolitik noch darüber hinaus. Der zweite Grund ist der Vorsprung bei den Daten: Es gibt einfach sehr viele Chinesinnen und Chinesen, viele von ihnen sind Digital Natives, digitale Applikationen begleiten sie auf Schritt und Tritt - ideale Voraussetzungen für datenextraktive Geschäftsmodelle.

KI-getriebene Produkte wie etwa Smart-Home-Geräte oder künstliche Sprachassistenten erobern den Massenmarkt und stellen gleichzeitig den Beginn einer neuen Ära in der Geschichte der Nutzer-Schnittstellen dar: Sprach-Interfaces lösen die Maus bzw. den Touchscreen ab. Die Nutzerinnen und Nutzer der KI-getriebenen Assistenten nehmen dabei gleich mehrere Rollen ein: Einerseits sind sie Kunden von Geräten und Diensten, gleichzeitig sind sie aber auch Lieferanten von Feedback-Daten, die für die Optimierung und Weiterentwicklung eben der Dienste genutzt werden, die sie in Anspruch nehmen.

Ihre Käufer stellen einerseits eine Ressource dar, insofern sie beständig neue Sprachkommandos hervorbringen, die als Trainingsdaten zur Optimierung des Systems eingesetzt werden. Gleichzeitig leisten sie kostenlose Arbeit, indem sie unbezahlt Feedback liefern über das Funktionieren der KI. Sie sind Kunde, aber auch Produkt, ihre Profile, ihr Verhalten, sowohl vergangenes, gespeichertes, als auch zukünftiges, vorherzusagendes, können an Dritte veräußert werden.

Digitale Dienste, die durch KI-Feedback auf sich selbst rückgekoppelt sind, verschleißen nicht nur nicht im Laufe der Zeit, sie werden kontinuierlich besser. Auf der Internationalen Funk-Ausstellung 2018 in Berlin schwärmte Jo Seong-jin, der Vorstandschef des Unterhaltungselektronik-Riesen LG, von unter dem Schlagwort "Evolve" präsentierten KI-Technologien, eine "sich durch fortgesetzte, akkumulierte User-Interaktion weiter entwickelnden Maschine."

Diese ermöglichten Seong-jin zufolge neue Produkte, die niemals schlechter, sondern sogar on the fly besser würden. Im Zug ihrer Benutzung verändern sie sich, lernen dazu, bekommen neue Features, werden gar zu einem ganz neuen Produkt. Für den Hersteller eines Sofas oder einer Schallplatte, der auf natürliche oder absichtlich herbeigeführte Obsoleszenz setzt, mag das verrückt klingen.

Maschinen können nicht denken, aber sie können Prognosen treffen, und das ist für das Kapital interessant. Auch die drei kanadischen Autoren des gerade erschienenen Buches "Prediction Machines" betonen, die derzeitige Welle an KI-Anwendungen keine Intelligenz bringt, sondern eine entscheidende Komponente derselben: Vorhersagefähigkeit.

(Bild: Adrian Grosu / shutterstock.com)

Sie sprechen davon, dass die "Stückkosten" pro maschinelle Vorhersage stetig fallen, und verbinden dies mit der Output-Rate von KI-Anwendungen, die an Moores Gesetz erinnert, also der empirischen Feststellung, dass sich die Leistungsfähigkeit von Computern alle ein bis zwei Jahre verdoppelt. Jack Ma, Gründer von Alibaba, meint sogar, KI würde dazu führen, dass das (chinesische) Kapital Marktunsicherheiten generell überwinden könne und schlussendlich erlauben würde, "die Planwirtschaft zu verwirklichen".

Die umfangreichsten Ressourcen, die meiste Rechenkapazität, die besten Leute, die klügsten Wissenschaftler, die avanciertesten neuronalen Netze, die umfangreichsten Datenbanken, kurz, das Beste, was die Menschheit an Wissen hervorgebracht hat, dient - abgesehen von Marketing-Gags wie Go-Spielen und Feigenblättern wie besserer Krebsvorsorge - in erster Linie dazu, herauszufinden, was wir als nächstes kaufen werden.

Technologien um Künstliche Intelligenz stellen für diese Firmen den Kern der algorithmischen Datenauswertung dar, sie werden zur zentralen Verwertungsmaschine des digitalen Kapitalismus. KI ist eine Technologie, um Big Data auszuwerten, kostenlose User-Arbeit effizienter zu verwerten und die digitale Workforce zu überwachen, ganz wie das Fließband einerseits Rationalisierung, andererseits Machtinstrument in der Fabrik war.

Der datenextraktive Kapitalismus der Plattformen versucht sich mit ihrer Hilfe zu konsolidieren und gleichzeitig Fuß zu fassen in fremden Branchen und seine KI-Technologien zum unverzichtbaren Standard zu machen. Ob es um die plattformkapitalistische Verwertungsmaschinerie, die Überwachung von digitaler Arbeit, von Kunden und Nutzerinnen geht oder um die Zukunft bzw. Prekarisierung der Arbeit: In allen drei zentralen Fragen im Rahmen des digitalen Kapitalismus spielen KI-Technologien eine wichtige Rolle.

Der Digitale Kapitalismus hat einen neuen Gesellschaftsvertrag etabliert: Daten gegen Bequemlichkeit. Kostenlose private Dienste treten an die Stelle öffentlicher Dienste und werden zunehmend Bestandteil der Daseinsvorsorge. Technologien rund um Cloud Computing und Künstliche Intelligenz dienen zur Konsolidierung dieses New Deal.

In China entsteht derweil eine staatsmonopolistische, panoptische Variante des Überwachungs- und Vorhersage-Kapitalismus, die mit dem Silicon-Valley-Modell in Konkurrenz tritt.

Es ist abzusehen, dass Wissen und Fähigkeiten rund um KI, Big-Data-Analysen und maschinelles Lernen ebenfalls zum Alltag, zum nächsten kapitalistischen big thing werden - technologisches Heilsversprechen, soziale Verheißung und finanzieller Hoffnungsträger zugleich. Eine Debatte um Alternativen, jenseits der Verwertungslogik, jenseits verschiedenster Formen der fremdbestimmten Arbeit und jenseits von die persönliche Freiheit bedrohenden Entwicklungen steht auf der Tagesordnung.

Mehr Infos
  • Kai-Fu Lee, AI superpowers: China, Silicon Valley, and the new world order. Houghton Mifflin Harcourt, Boston 2018
  • "Google's hippocampus", in: The Economist, 15.12.2016
  • Ajay Agrawal, Joshua Gans, Avi Goldfarb, Prediction Machines.The Simple Economics of Artificial Intelligence. Harvard Business Review Press, Boston, Massachusetts 2018
  • Timo Daum, Die Künstliche Intelligenz des Kapitals. Hamburg: Edition Nautilus GmbH, 2019
  • Jo Seong-jin, "›Think Wise, Be Free: Living Freer with AI‹", IFA Keynote, 31.8.2018

(jk)