2010 – das Jahr, in dem wir Kontakt verlieren

Ja, es ist Krise. Und nein, das vergangene halbe Jahr war keine gute Zeit für eine nachhaltige Klimapolitik.

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Von
  • Niels Boeing

Vielleicht liegt es am Wetter. Das ist dieser Tage nicht dazu angetan, sich über eine globale Erwärmung den Kopf zu zerbrechen. Bemerkenswert ist es dennoch, wenn aus Berlin und Paris plötzlich ein kalter Wind Richtung Brüssel pfeift, wo die EU-Kommission darüber nachdenkt, wie Europa seine CO2-Emissionen bis 2020 um 30 statt um 20 Prozent (gegenüber 1990) senken könnte.

FAZ und Spiegel online berichteten gestern, dass man im Bundeswirtschaftsministerium von solchen Plänen derzeit nichts hält. Dort sorgt man sich um das zarte Pflänzchen eines möglichen Aufschwungs, das die 11 Milliarden Mehrkosten für eine ehrgeizigere CO2-Reduzierung plattmachen könnten. "Es bringt ja für den Umweltschutz nichts, wenn wir einseitig in Europa vorangehen, und die Verlagerung der Arbeitsplätze in andere Regionen der Welt erfolgt", zitierte Spiegel online Bundeswirtschaftsminister Rainer Brüderle.

Man mag die 11 Milliarden Euro im Vergleich zum Rettungspaket für Griechenland für Peanuts halten. Dennoch kommt der Berliner Stimmungswandel nicht überraschend. Denn das vergangene halbe Jahr war keine gute Zeit für eine nachhaltige Klimapolitik.

Die Kopenhagen-Konferenz im Dezember – gescheitert. Die Bonner Klimagespräche vor drei Wochen – wieder nur fromme Worte.

Die Klimaforschung – gerät von einem PR-Desaster ins nächste. Nach den geklauten Emails von "Climategate" im November musste IPCC-Chef Pachauri Anfang Februar Fehler im 2007er Report des Internationalen Klimarats einräumen. Anfang Mai bebilderte dann Science eine gemeinsame Erklärung von über 200 Klimaforschern zur Integrität ihrer Disziplin mit einem Photoshop-Eisbären.

Dass die Politik sich nicht zusammenrauft, berührt den in Zynismus gestählten Bürger nicht mehr. Aber dass Wissenschaftler plötzlich im Zwielicht stehen, hinterlässt noch Spuren – auch wenn sich an den Fakten samt Unwägbarkeiten nichts geändert hat und Monat für Monat solide neue Forschungsergebnisse publiziert werden, die keinen Grund zur Entwarnung geben.

Und nun noch der dritte Akt der Finanzkrise: die Euro-Krise. Der wirtschaftspolitische Chauvinismus feiert derweil fröhliche Urständ, und der Bürger friert im Mai – mancher auch sozial und ökonomisch.

All das sind perfekte Zutaten, um das Megathema Klimawandel nachhaltig abzuwürgen. Ich muss zugeben, dass mich gerade Pessimismus überkommt, wir könnten in der Klimadebatte noch einmal die Kurve bekommen.

Jetzt rächt sich, dass das fossile Wachstumsdogma nie ernsthaft hinterfragt worden ist. Dass die Überbetonung von CO2-Reduktionen und das jahrelange Ausblenden, wie wir uns an einen Klimwandel anpassen könnten, dem Klimaschutz den sauren Geruch von Öko-Askese gegeben hat. Dass die Naturwissenschaften sich bis heute schwer damit tun, ihre Arbeit methodologisch und soziologisch in aller Öffentlichkeit zu reflektieren.

Die Krise als Chance – wie oft hat man das in den letzten drei Jahren gehört? Nichts dergleichen.

Vorwerfen kann man diese Entwicklung ehrlicherweise niemandem. Der Klimawandel überfordert die Menschen in ihrer Vorstellungskraft. Man kann ihn nicht sehen und riechen. Die Theorien dahinter sind zu komplex für eine Welt, in der Komplexitätsreduktion längst keine Bequemlichkeit mehr, sondern eine Überlebensstrategie ist.

2010: Die Insassen des Raumschiffs Erde brechen den Kontakt mit der Realität ab und behalten den alten Kurs bei. Ein kosmischer Witz. Oder, Europa? (nbo)