Das Leben bewahren

Die Abgesänge auf den Datenschutz sind fast so alt wie er selbst. Seit den 70er-Jahren wird er als Fortschrittsbremse und Täterschutz diskreditiert; 25 Jahre später, als die Internet-Blase sich aufblähte, sahen ihn viele als Ausdruck informationstechnischer Ignoranz. Und nun soll er angesichts von Social Networking und Ubiquitous Computing endgültig obsolet sein. Das ist Blödsinn.

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Von
  • Dr. Thilo Weichert
Inhaltsverzeichnis

Datenverarbeitung ist kein neutraler Vorgang, sondern von hoher politischer und gesellschaftlicher Relevanz; sie ist geeignet, Menschen zu unterdrücken und kontrollieren, Macht zu sichern und ein diktatorisches Regime aufrecht zu erhalten. Der Umgang mit persönlichen Daten drückt aus, wie demokratisch, freiheitlich und humanitär eine Gesellschaft ist.

Die Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Regime und die Verhältnisse in der DDR motivierten westdeutsche Bürger in den 70er-Jahren zum Widerstand gegen informationstechnische Wünsche der Verwaltung. Das Bundesverfassungsgericht verstand die Zeichen der Zeit und leitete aus der Verfassung ein Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung ab. Die Botschaft gilt bis heute: Die personenbezogene Informatisierung muss und kann gesetzlich reguliert werden. Jede Erfassung und Verarbeitung von Daten bedarf einer Rechtfertigung, die sich an den Grundsätzen der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit messen lassen muss.

In den 90er-Jahren demokratisierte das Internet die Datenverarbeitung. Alle Menschen können sich seither ihrer bedienen, nicht nur der Staat und große Wirtschaftsunternehmen. PCs, Notebooks und schließlich Smartphones popularisierten die Datenverarbeitung global. In der öffentlichen Wahrnehmung verdrängten die Chancen, die das eröffnet, die Angst vor den damit einhergehenden Risiken.

Die Protagonisten der boomenden Branche vermittelten schon früh den Eindruck, jeder Mensch beherrsche die Technik und könne auf Datenschutz verzichten. Sun-Boss Scott McNealy sagte 1999: „Privacy? Get over it!“ Er drückte aus, was Vertreter seiner Industrie bis heute postulieren: In einer weltweit vernetzten, umfassend automatisierten Gesellschaft sei es anachronistisch, die Informationstechnik rechtlich zu beschränken.

Nach den terroristischen Anschlägen am 11. September 2001 bekam die These vom Absterben des Datenschutzes noch einen völlig anderen Zungenschlag. Die westlichen Regierungen reagierten mit einer gemeinsamen Botschaft: Um Sicherheit gewährleisten zu können, bedürfe es der umfassenden staatlichen proaktiven und zugleich verdeckten Datenerhebung und -verarbeitung. Den globalen Risiken unserer mobilen Informationsgesellschaft könne man nur durch Kontrolle begegnen – mit Telekommunikationsüberwachung, Online-Durchsuchung, Videoüberwachung, biometrischen Ausweisen, Rasterfahndung, Fluggast-, Banktransaktionsdaten- und sonstiger Vorratsdatenspeicherung.

Das Totenglöckchen des Datenschutzes wurde nun von zwei Seiten geläutet. Doch nach einer kurzen Schockstarre forderte man zumindest in Deutschland auch bei der Bekämpfung des Terrorismus und der Abwehr globaler Risiken ein gesundes Maß an Rationalität und Grundrechtsverträglichkeit ein. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte die im Volkszählungsurteil festgestellte Begründungspflicht bei staatlichen Informationseingriffen. Seither loten wechselnde Regierungen mit immer neuen Gesetzen die Grenzen aus, die das Verfassungsgericht zieht.

Datenverarbeitungsskandale gibt es, seit es die elektronische Verarbeitung von personenbezogenen Daten gibt. Doch nie reagierte die Bevölkerung derart sensibel darauf wie seit 2008. Die Skandale bei Telekom, der Bahn oder Lidl haben zwei Punkte anschaulich verdeutlicht: Erstens ist der Staat noch weit davon entfernt, informationelle Sicherheit zu garantieren. Und zweitens sind alle Hoffnungen in die Selbstregulierung der Informationstechnik nur Wunschträume von Politikern, die die Technikentwicklung verschlafen haben, und von Wirtschaftsvertretern, deren zentrales Ziel es ist, Menschen durch informationelle Dominanz ökonomisch auszubeuten.

Die These vom Kontrollverlust ist aber vor allem Ausdruck einer egozentrierten Wahrnehmung der Wirklichkeit durch westliche Nerds. Sie ignoriert, dass das Digitale lediglich unsere analoge Welt abbildet. Es wird durch die analoge Welt gestaltet und ist nichts anderes – dies aber in gewaltigem Maße – als ein Instrument zu deren Wahrnehmung. Die informationelle Selbstentäußerung mancher Netizens wird ein Übergangsphänomen bleiben, das deren Selbstverliebtheit und deren digitalem Status geschuldet ist. Aller Technikfetischismus ändert nichts daran, dass wir auch weiterhin sehr biologisch-natürlich leben müssen.

Das Beschränken von Informationen bleibt ein selbstverständliches Phänomen für diejenigen, die sich bewusst sind, dass mit zu viel Preisgabe individuelle wirtschaftliche, politische, soziale und seelische Verluste verbunden sein können. Dies gilt nicht nur für Regierungen, Wirtschaftsunternehmen und Geheimdienste, sondern auch für den Citoyen und die Citoyenne der globalen Informationsgesellschaft. Die These, Kontrollverluste seien unvermeidbar, dient vorrangig dazu, den informationellen Fremdbestimmern ihr Geschäft zu erleichtern, sei dies nun Google, die chinesische Regierung oder sonst jemand.

Es gibt ein Leben außerhalb eines unkontrollierten und unkontrollierbaren Internet. Dieses zu bewahren ist eine der wichtigsten Aufgaben moderner Politik. Dabei geht es zum einen um die Bewahrung analoger Alternativen. Zum anderen geht es aber auch um eine demokratische Kontrolle des Internet. Diese muss nichts zu tun haben mit Zensur und Überwachung, wohl aber viel mit Bürger- und Rechtsschutz. Ein zentraler Aspekt für die demokratische Kontrolle des Internet ist Transparenz. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich die chinesische Regierung und Google – bisher noch – nicht in ihre Rechner blicken lassen.

Zu verhindern, dass sich die Propaganda vom Ende des Datenschutzes und die Unkenntnis über effiziente Möglichkeiten rechtlichen, technischen und organisatorischen Datenschutzes in unserer Gesellschaft durchsetzen, das ist auch eine Aufgabe der Informationstechnik. Sie ermöglicht den ungehinderten elektronischen Diskurs über diese Themen, auch außerhalb der hierfür vorgesehenen parlamentarischen Gremien.

Die Menschen wollen die Errungenschaften der Informationstechnik genießen, sind aber nicht bereit, hierfür ihre informationelle Selbstbestimmung und ihre digitalisierten Freiheiten zu opfern. Es ist nicht nur eine verfassungsrechtliche Anforderung, sondern auch ein vitales menschliches Grundbedürfnis, einen Ausgleich zwischen Datenschutz und Datenverarbeitung zu finden. Dieses Grundbedürfnis hat eine politische Dimension, der sich die Parlamente langfristig nicht entziehen können. Die Politik beginnt gerade erst, den Ernst der neuen politischen Herausforderung durch die Informationstechnik zu erkennen.

Es gibt keinen Grund, sich vom Datenschutz zu verabschieden. Vielmehr geht es darum, dem Datenschutz rechtlich und organisatorisch eine der modernen Technik angemessene Gestalt zu geben. Einige Stichworte dazu:

– Datenschutz als Bildungsaufgabe,

– Förderung des Selbstdatenschutzes etwa durch vereinfachte Möglichkeiten zur Selbstauskunft,

– Schaffung eines rechtlichen Rahmens zur Optimierung des Verhältnisses von Presse-, Meinungsäußerungs- und Informationsfreiheit zum Schutz informationeller Selbstbestimmung und zum Schutz der Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme,

– adäquate Verfolgung und Sanktionierung von Datenschutzverstößen sowie Abbau der gewaltigen Vollzugsdefizite,

– allgemeine Etablierung von grundlegenden Datenschutztechniken wie Verschlüsselung und digitale Signatur,

– Anerkennung des Datenschutzes als Verbraucher- und als Arbeitnehmerschutz,

– Entwicklung und Förderung von Privacy Enhancing Technologies wie der eID des neuen Personalausweises,

– Entwicklung und Förderung von Datenschutzmarktinstrumenten wie Audits und Gütesiegel,

– Etablierung eines verbindlichen globalen Rechtsrahmens für den Datenschutz.

Microsoft hat in Sachen Datenschutz Ende des letzten Jahrhunderts wichtige Lektionen gelernt und ist vom globalen Bad Guy zu einem wirtschaftlichen Vorreiter beim Datenschutz geworden, wenngleich auch dieses Unternehmen noch viel lernen muss. Andere Global Player wie Google und Facebook haben die neue Zeit noch nicht verstanden. Ich behaupte: Wenn diese Unternehmen weiterhin den Datenschutz ignorieren, wird dies einer der Gründe für deren Niedergang sein.

Das 21. Jahrhundert wird geprägt sein vom Kampf um den Rohstoff Information – nicht trotz, sondern wegen Social Networking und Ubiquitous Computing. Dabei geht es um den Zugang zu und um die Wahrung der Vertraulichkeit von Informationen. Jede Gesellschaft, die für die hier bestehenden komplexen Spannungsverhältnisse keine neuen gerechten Ausgleiche findet, zerstört die informationelle Basis für individuelle und wirtschaftliche Freiheit und droht in einen modernen Totalitarismus abzugleiten. Zum gerechten Ausgleich gehören nicht nur der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen und der Kampf gegen Wirtschaftsspionage, sondern auch der Datenschutz und der Kampf gegen informationelle Fremdbestimmung, Diskriminierung und Entblößung. (ad)