Die nächste Milliarde

Japans Konzerne vollziehen einem Paradigmenwechsel: Sie entdecken die neuen Mittelschichten in Schwellenländern als Abnehmer.

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Von
  • Martin Kölling

Ich persönlich freue mich hier in Japan immer, wenn ich mal ein Anzeichen für Globalisierungsversuche in Gesellschaft und Wirtschaft finde. In letzter Zeit machen in dieser Hinsicht die Technikkonzerne Spaß, die von der Wirtschaftskrise aus ihrem selbstgefälligen Dornröschenschlaf geweckt wurden. Jahrzehntelang engagierten sich Japans Konzerne in den Industrienationen in einer Aufholjagd, um westliche Marken erst einzuholen und dann die reichen Märkte zu erobern. Zunehmend verlegten sich Sony, Panasonic, Toyota und Co. dabei auf das Angebot von hochwertigen wie -preisigen Produkten, die höhere Gewinnmargen versprachen. Lange überließen sie die mittleren und unteren Preissegmente ihren Rivalen aus Südkorea und China, so dass inzwischen Samsung Indern geläufiger ist als Panasonic. Erst nachdem die Weltwirtschaftskrise die Industrienationen als Wachstumsmärkte ausgeschaltet hat, erkennen sie die neu entstehenden Mittelschichten in den Schwellenländern als Melkkühe.

Das Stichwort lautet "Volume Zone": Mit funktionell und preislich abgespeckten Geräten wollen die Elektronikhersteller asiatischen Billigherstellern Paroli bieten und die Konsumträume der asiatischen, südamerikanischen und afrikanischen Mittelschichten erfüllen. Die "nächste Milliarde" nennt Panasonics Auslandsvorstand Hitoshi Otsuki diese Gruppe, die entwicklungstechnisch auf der Stufe Deutschlands beim Beginn des Wirtschaftswunders steht. Viele Familien kaufen sich ihren ersten Kühlschrank, ihre erste Klimaanlage und – wenn sie das Geld haben – ihren ersten Flachbildfernseher. Es ist eine spannende Zeit für diese Menschen, geprägt von Aufstiegswillen und -gewissheit. Ich persönlich habe die Ausläufer dieser Zeit noch erleben dürfen (mein Gott, wie die Zeit vergeht) und erinnere mich noch heute, wie ich aufgeregt aus dem Fenster geguckt habe, als mein Vater mit dem ersten Familienfernseher nach Hause gekommen ist.

Dummerweise schwingen die meisten japanischen Firmen bisher nur schöne Reden, leisten aber einen schlechten Job, wenn es darum geht, ihre Pläne in die Tat umzusetzen, sagte mir der Chef eines japanischen Think Tanks kürzlich. Denn um die Märkte wirklich knacken zu können, müssen Unternehmen eine Reihe von Bedingungen erfüllen, die die meisten halt nicht erreichen: Genauer gesagt sind es die Entwicklung, die Produktion und der Vertrieb von Leuten vor Ort für Leute vor Ort. Denn von Ingenieuren in Japan zu verlangen, Billiglinien für Kunden in Indien oder Indonesien herzustellen, funktioniert nicht – das hat schon Carlos Ghosn, der Chef von Nissan und Renault, erkannt. Als er über ein Billigstauto für Indien nachdachte, schloss er eine Entwicklungspartnerschaft mit einem indischen Unternehmen, denn die dortigen Ingenieure sind Meister im "frugal engineering", der Kunst des Weglassens. Gleichzeitig haben einige Hersteller herausgefunden, dass nicht nur japanische Arbeiter fleißig sind und Qualität produzieren können, sondern auch die Malocher in China, Thailand oder anderswo. Das wird in Japan nur nicht gerne wahrgenommen, kratzt es doch am Selbstbild, der globale Qualitätsführer zu sein.

Panasonics Otsuki stößt in das gleiche Horn. Das Unternehmen habe im letzten Jahrzehnt seine asiatischen Produktionsstätten durch harte Auslese und Ausbildung so weit verbessert, dass rund ein Dutzend von Fabriken nun Geräte für ihre Märkte selbst entwickeln und herstellen können. In Indonesien kann der Konzern daher Kühlschränke für nur umgerechnet 130 Euro verkaufen und in Lateinamerika Geräte von Panasonics taiwanesischen Ingenieuren anbieten. Dabei wird sogar noch ein "vernünftiger" Gewinn eingestrichen, so Otsuki. Früher hätte Panasonic bei solchen Niedrigpreismodellen draufgezahlt.

Unterstützt wird die Arbeit durch spezielle, für die jeweiligen Märkte entwickelte Produkte. Panasonic hat dazu in China und Europa sogenannte Lifestyle Research Center eingerichtet, die aus der Beobachtung des Alltagsverhaltens kleine Ideen für ihre Produkte entwickeln. In Indonesien ist dies zum Beispiel ein kleines Kühlfach im Kühlschrank für Medizin, denn viele Haushalte bewahren ihre Medizin im Kühlschrank auf. Andere Firmen suchen auch nach verkaufsförderlichem Zusatznutzen. Der südkoreanische Konzern LG hat ebenfalls in Indonesien Klimaanlagen auf den Markt gebracht, die nicht nur Hitze, sondern auch Stechmücken vertreiben. In Indien hingegen verzichten die Konzerne auf den Einbau von Ortungssensoren für Menschen, mit denen daheim die Klimaanlagen den Luftstrom steuern – denn die Haushalte sind mit Deckenventilatoren versehen, die die Luft verquirlen. Auch die Autohersteller wie VW gehen immer stärker in die Richtung, lokale Modelle aufzulegen.

Mir persönlich gefällt die Entwicklung, weil sie mir zeigt, dass die Welt zusammen wächst. Schließlich bedeutet die Verlagerung von Kompetenzen in andere Länder, dass sich auch die Konzerne zu internationalisieren und fremden Kulturen gegenüber zu öffnen beginnen. Auch japanische Unternehmen beginnen daher über Work-Life-Balance, Diversity und andere neumodische Personalkonzepte zu reden. Dabei haben die Unternehmen allerdings noch reichlich Nachholbedarf, da sie anders als die meisten westlichen Konzerne kaum Ausländer in ihren Vorständen oder Hauptquartieren beschäftigen. Die wenigen, die in Japan arbeiten, müssen sich an mitunter verschrobenen Sitten anpassen. (bsc)