Der Cyberwar des Julian Assange

Der Afghanistan-Scoop von Wikileaks ist zweifellos ein Ereignis. Aber so wie das Projekt angelegt ist, kann eine Menge schiefgehen, zum Beispiel mit den nächsten "Hitler-Tagebüchern".

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Von
  • Niels Boeing

Der Scoop, den die Internet-Plattform Wikileaks gelandet hat, ist allein wegen seines schieren Ausmaßes ein Ereignis: Rund 75.000 geheime Militärdokumente aus Afghanistan zu veröffentlichen, stellt alle bisherigen Fälle von "Whistleblowing" in den Schatten. Würde dadurch das Ende des unseligen Afghanistan-Kriegs beschleunigt, wäre dies ein gewaltiger Erfolg. Der 26.7.2010 würde zu dem Tag, an dem das Internet erstmals massive Auswirkungen auf die Geopolitik hatte.

Dennoch kann einen die Operation "Afghan War Diary" nachdenklich machen.

Die naheliegendste Frage ist noch: Liegen die Dinge wirklich so, wie sie scheinen? Längst ist das "Informationszeitalter" auch ein Desinformationszeitalter geworden. Es ist durchaus verständlich, wenn skeptische Zeitgenossen bezweifeln, dass man eine solche Menge von Dokumenten aus einem naturgemäß paranoiden Militärapparat herausschmuggeln kann, ohne digitale Spuren zu hinterlassen. Wer dies für unmöglich hält, landet sofort beim "cui bono?" – wer könnte davon profitieren? Anlass für endlose Spekulationen über den Schachzug hinter dem Schachzug...

Dann ist da die Frage: Operiert nicht Wikileaks wie die Apparate, die es bekämpft – intransparent, ohne Rechenschaft abzulegen? Natürlich, und das sollte niemanden wundern. Wenn schon Kritiker, die ihr Recht auf Meinungsfreiheit in harmloseren Angelegenheiten in Anspruch nehmen, mit den Mitteln des Rechtsstaats mundtot gemacht werden, ist es folgerichtig, gegen "nationale Sicherheitsinteressen" nicht mit offenen Karten zu spielen. Das führt allerdings zu der Frage: Was ist dann gewonnen, wenn man spiegelbildlich mit denselben Methoden arbeitet? Ein Macchiavellist würde hier nur mit den Schultern zucken: Wikileaks ist eben nichts anderes als eine Art "öffentlicher" Geheimdienst. Und Fidel Castro würde hinzufügen: Die Geschichte wird mich freisprechen.

Aber können Daten, Informationen für sich selbst sprechen, wenn sie ans Licht gebracht werden? Wenn ich die diversen Interviews mit Wikileaks-Gründer Julian Assange lese, scheint er dies zu glauben. Er selbst bezeichnet seinen Standpunkt als neutral, so neutral, wie die Daten, die Wikileaks präsentiert, im Unterschied zu dem, was die klassischen Medien veröffentlichen. Dass er – wie im Spiegel-Interview – Transparenz als eine Voraussetzung für eine gerechte Gesellschaft ansieht, ehrt ihn. Doch scheint hier der naive Physiker (er hat in Melbourne u.a. Physik studiert) in ihm durchzubrechen, der seinen Popper nicht gelesen hat: "Beobachtung ist stets Beobachtung im Licht der Theorie", schrieb Karl Popper, und Thomas Kuhn zeigte später, dass selbst die Physik keine neutralen Daten produziert. Auch die Afghanistan-Dokumente sprechen nicht für sich: Für einige zeigen sie nur das, was alle immer schon wussten (oder wissen konnten), für andere bergen sie politischen Sprengstoff. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass diese Dokumente am weiteren Kriegsverlauf gar nichts ändern werden.

Die wichtigste Frage ist für mich jedoch: Wie abhängig macht sich Wikileaks? Damit meine ich nicht, dass es sich in Wirklichkeit um ein CIA-Projekt handelt. Um Spendengelder einzunehmen, ist Wikileaks von derselben Aufmerksamkeitsökonomie abhängig wie die Medien, die Assange so skeptisch beurteilt. Das bedeutet: Von Zeit zu Zeit muss ein wirklich fetter Coup her, um im Gespräch zu bleiben. Zehn hochbrisante Afghanistan-Dokumente könnten eine politische Sensation sein – oder, wenn man sie nicht hat, eben über 91.000 Alltagsberichte von der Front (wenn man die bislang noch nicht veröffentlichten hinzuzählt). Wahrscheinlich geht es nicht anders. Aber das Projekt läuft so jederzeit Gefahr, über ein Äquivalent der "Hitler-Tagebücher" zu stolpern.

Diese Gefahr wäre wohl geringer, wenn Wikileaks nicht ebenso global operieren würde, wie viele der Apparate, die es bekämpft. Julian Assange hat sich im Guardian mit einem "Kriegsberichterstatter" verglichen: "Ich bin überall", sagte er. Im Grunde ist er mehr als das: Er hat eigentlich allen Apparaten den globalen Cyberwar erklärt, und Wikileaks ist seine Waffe. Damit begibt er sich in einen unauflösbaren Widerspruch* - denn "das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit" (Hiram Johnson, 1917). Warum sollte das nur im Irak oder in Afghanistan gelten?

*Interessant sind in diesem Zusammenhang auch die Mails von John Young (Cryptome.org) auf der Wikileaks-Mailingliste am 4., 5. und 7.1.2007. (nbo)