Nicht mehr für ein Leben lang

Im Analogzeitalter wurde die Qualität vieler Produkte oft nach Jahrzehnten bemessen: Die Miele-Waschmaschine meiner Oma hielt noch 30 Jahre, ihr erster Farbfernseher über ein Jahrzehnt. Im Digitalzeitalter hingegen ist die Halbwertzeit kürzer. Ist das wirklich schlimm?

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Von
  • Martin Kölling

Als Reaktion auf diesen Blogeintrag gab es in den Kommentaren eine kurze Diskussion über das Thema Qualität. Eine Hoffnung war, dass Geräte ein Leben halten sollen, ein anderer Kommentator merkte an, dass Lebensdauer wegen der Weiterentwicklung meist nicht einmal nötig sei.

Ich denke, dass hinter der Diskussion ein Kulturwandel steht, den besonders in Deutschland viele Menschen als Verlust empfinden. Im Analogzeitalter wurde die Qualität vieler Produkte oft nach Jahrzehnten bemessen: Die Miele-Waschmaschine meiner Oma hielt noch 30 Jahre, ihr erster Farbfernseher über ein Jahrzehnt. Und bei guten Fotokameras war es wie mit edlem Wein: Je älter sie war, desto höher stiegen sie in der Wertschätzung der Fotografen. Viele Geräte wurden wirklich bis an Ende ihres Produktlebens gehalten.

Im Digitalzeitalter hingegen ist die Halbwertzeit kürzer: Handys wurden in Japan früher alle sechs Monate ersetzt. Heute, nach einer Veränderung des Subventionssystems, immer noch alle zwei Jahre – lange bevor sie ihr Leben aushauchen. Digitale Fotoapparate haben auch eine Halbwertzeit von wenigen Jahren, selbst wenn es sich um Spiegelreflexkameras handelt. Jedenfalls fühlte sich meine digitale Canon 10D nach sechs Jahren ähnlich museal an wie meine Analogkameras, eine Canon FTb von 1971. (Auch wenn die Benutzung des Belichtungsmessers derzeit etwas schwieriger ist, weil die damals eigentlich eingesetzte Batterie nicht mehr produziert wird und nur mit Aufwand zu umgehen ist.)

Der Grund ist offensichtlich und bekannt: Bei der analogen Fotografie entscheiden neben dem Können des Fotografen Mechanik, Objektiv und – vor allem – der eingesetzte Film über die Qualität der Fotos. Und das eingesetzte Geld: Denn Profifotografen zogen zig Rollen Film pro Auftrag durch die Kamera, um das Oh-Ah-Foto zu finden, ein Luxus, den sich Hobbyfotografen nicht leisten konnten.

In der Digitalfotografie sind der Fotograf und das Objektiv natürlich auch noch wichtig, aber die Fotoqualität hängt entscheidend vom Sensor und den Algorithmen der Bildverarbeitung ab. Und beide entwickeln sich beständig weiter, ohne dass Sensor und Rechenprozessoren ausgewechselt werden könnten. Damit ist eine Kamera (nicht die Objektive) in der Regel lange vor ihrem Systemausfall veraltet und wird dementsprechend oft ersetzt. Beschleunigt wird der Zyklus noch dadurch, dass die Elektronikhersteller neuen Geräten immer neue Features (Touch Screens, GPS, Video, 3D) spendieren, die – je nach Hersteller – mehr oder weniger realen Mehrwert versprechen. So haben Sie sich vielleicht vor zwei Jahren gerade einen HD-fähigen Camcorder gekauft und nun kommt schon die 3D-Variante auf den Markt (die ich just in diesem Moment teste).

Resultat 1: Während Fotografen von alten Leicas schwärmten, wird heute oder in zehn Jahren kaum noch jemand der von Panasonic produzierten Leica D2 (= Panasonic Lumix DMC-LC1) aus dem Jahr 2003 nachjagen, die im Kompaktbereich durch die Übernahme analoger Kontrolle ergonomisch den Standard setzte. Der Grund: Der schon damals recht rauschende 4,9-Megapixel-Sensor liegt mittlerweile weit hinter dem Stand der Technik zurück. Natürlich wird es immer Ausnahmen geben, wie ein Kommentator schrieb, der elektronische Geräte benutzt, bis sie auseinanderfallen. Aber die übergroße Masse wird angesichts des großen Unterschieds in Qualität und Funktion in schnellerer Frequenz als früher noch funktionstüchtige Geräte ersetzen.

Resultat 2: Für Weltbürger wie mich, die über die erste Hälfte ihres Lebens mit analoger Technik groß geworden sind, mag dieser Verlust der Langsamkeit als Verlust an Lebensqualität, Produktqualität und an wahrgenommener seelischer Sicherheit durch die Beständigkeit unserer Umgebung empfunden werden. Nicht so für die junge Generation, die allein mit digitalen Geräten aufgewachsen und an sie gewöhnt ist. Sie dürfte auch relativ unbeschwert und unhinterfragt die kurzen Lebenshorizonte digitaler Elektronik akzeptieren. Auch in Asien, besonders in Japan, fällt das Gejammer über die schreckliche neue Zeit meiner Wahrnehmung nach geringer aus als in Deutschland. Natürlich herrscht auch hier Wehmut über den Verlust der guten alten Zeit. Aber dabei geht es mehr um den von Senioren wahrgenommenen Sittenverfall und nicht so sehr um den Verlust von Beständigkeit. Meiner Beobachtung zufolge verehren die Bewohner Ostasiens das Alte in Form von Gebäuden und Geräten nicht in dem Maße wie das Abendland.

Nehmen wir das Beispiel Wohnen. Während man in Deutschland als Bewohner eines Altbaus neidische Blicke erntet, sind es in Japan schon mitleidige, wenn das Gebäude aus den 1970er Jahren stammt. Denn "alt" steht nicht für "gut", sondern für "veraltet". Richtige bewohnbare "Altbauten" vom Beginn des 20. Jahrhunderts gibt es hier wie auch Südkorea oder China kaum, beträgt doch die durchschnittliche Lebenserwartung eines hölzernen Einfamilienhauses in Japan unter 30 Jahren.

Auch der vielleicht älteste Schrein des Landes, der Ise-Schrein, ist nicht wirklich 1300 Jahre alt. Vielmehr wird er alle 20 Jahre wieder neu aufgebaut, das nächste Mal 2013. Vielleicht stehen auch deshalb die Menschen neuer Technik unvoreingenommener gegenüber als in Europa. Interessanterweise könnte die Digitaltechnik an anderer Stelle gleichzeitig unser bisheriges Qualitätsempfinden positiv über den Haufen werfen: Die neuen LED-Lampen sollen 40 Mal länger halten als normale Glühbirnen – und damit in vielen Fällen länger als ein japanisches Durchschnittshaus. (bsc)