Signale aus der Tiefe

Neue Unterwasser-Observatorien erlauben Forschern, das Geschehen im Ozean live übers Internet mitzuverfolgen – und Küstenbewohner rechtzeitig vor Tsunamis zu warnen.

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Von
  • Cornelia Reichert

Die Frage ist nicht ob, sondern wann: Ein kleines Stück Erdkruste könnte den US-Staaten Oregon und Washington sowie der Provinz Britisch Kolumbien in Kanada verheerende Erdbeben bescheren. Denn vor den Küsten dieser Staaten liegt die Juan-de-Fuca-Platte. Die vergleichsweise winzige tektonische Scholle taucht unter die riesige nordamerikanische Platte ab. Immer wieder verhakt sie sich dabei oder biegt sich so sehr, dass sie bricht. Das ganz große Beben blieb bislang aus. Doch Forscher warten nur darauf, dass es hier gewaltig kracht – und dann vielleicht ein Tsunami auf die Millionenstädte Seattle und Vancouver zurollt.

Um die Gefahr besser einschätzen zu können, verfolgt Neptune das Rumoren in der Tiefe. Das weltweit größte und am weitesten entwickelte Unterwasser-Observatorium der Welt registriert jede Sekunde, was die kleine Platte und was sich im Meer über ihr tut. Das Beobachtungssystem – seine Name steht für North-East Pacific Time-Series Undersea Networked Experiments – vor der Küste von Vancouver Island erfüllt einen Forschertraum: Die derzeit 17 Messstationen an vier Standorten bringen den Ozean ins Internet. Die zu einem riesigen Netzwerk gekoppelten Knotenpunkte umspannen ein Gebiet von etwa 200000 Quadratkilometern der Juan-de-Fuca-Platte. Wenn sich hier etwas rührt, haben Wissenschaftler überall auf der Welt die Informationen sekundenschnell auf dem Computerschirm.

Hunderte Kilometer Kabelgeflecht verbindet die einzelnen Sensoren mit garagengroßen Versorgerstationen im Meer und diese wiederum mit dem Stromnetz an Land. Andere Kabel laufen zu einer Rechnerzentrale, sie bereitet die gesammelten Daten auf und speist sie ins Internet. Umgekehrt können Forscher online die Geräte im Ozean steuern. Meeresforschung per Mausklick: "Das ist eine Revolution", freut sich der Meeresexperte Laurenz Thomsen von der Bremer Jacobs-Universität.

Bislang waren er und all seine Wissenschaftlerkollegen weltweit von Forschungsschiffen abhängig, was der Meereserkundung enge Grenzen setzte: "Im Winter ist die See womöglich zu rau, um fahren zu können. Außerdem stehen immer nur wenige Wochen für bestimmte Forschungsarbeiten zur Verfügung.

Außerhalb dieser Zeit wissen wir schlicht nicht, was passiert", erläutert Thomsen das Problem. Also werden Instrumente auf See ausgesetzt und später eingesammelt. Geht etwas schief, sind die Datenspeicher leer. Fest installierte Observatorien bieten indes eine Chance auf ununterbrochene, ganzjährige Beobachtung.

Mit seinem Team hat Thomsen für Neptune den online lenkbaren Roboter Wally gebaut. Dessen Versorgerstation liegt am Kontinentalhang Kanadas, etwa 100 Kilometer vor Vancouver Island. Als die ersten Daten kommen, ist Thomsen überwältigt: "Das war toll, richtig irre! Ich sitze in Bremen, 8500 Kilometer weit weg, und sehe innerhalb von einer halben Sekunde, was gerade im Meer vor Britisch Kolumbien passiert." Was Thomsen als "sehen" bezeichnet, beschränkt sich allerdings hauptsächlich auf das Prüfen aussagefähiger Zahlenkolonnen: Wally misst ständig, wie trüb das Wasser ist und wie sich Temperatur, Druck, Strömung, Salzgehalt und Methankonzentration ändern.

Wallys größte Stärke aber ist sein enormes Bewegungsfeld, das rund 9500 Quadratmeter umfasst. Forscher, die Fragen zu einem bestimmten Ort in dieser Reichweite haben, können den Roboter mit seinen Sensoren über die Schaltzentrale buchen.Wally robbt dann für eine festgelegte Zeitspanne dorthin. Momentan untersucht er ein 50 Quadratmeter großes Feld mit Gashydrat.

Auch als Frühwarnsystem für Tsunamis haben sich Wally und die anderen Messposten des Netzwerks schon bewährt. Das System wurde zwar für Grundlagenforschung konzipiert, doch kaum war alles installiert, hat der Verbund die hohen Wellenfronten registriert, die im letzten Herbst nach einem Seebeben vor den Samoainseln durch den Pazifik jagten. Alle Neptune-Stationen haben nämlich einen Bodendruck-Messer. Einmal pro Sekunde bestimmen sie damit das Gewicht der Wassersäule über ihnen. "Die Instrumente sind so empfindlich, dass sie auch in einer Tiefe von drei Kilometern noch merken, wenn die Wassersäule nur einen Millimeter höher oder niedriger wird", sagt Benoît Pirenne. Er leitet im Neptune-Team an der Universität von Victoria auf Vancouver Island die Datenverarbeitung. Allerdings funktioniert der Frühalarm nur, wenn es weiter draußen im Pazifik bebt. Bewegt sich die Juan-de-Fuca-Platte, geht es also vor Kanadas Küste richtig los, kann Neptune nur die Vorboten des Bebens rechtzeitig melden. Denn das Zentrum der Erschütterungen liegt zu nah. Die ausgelöste Riesenwelle würde an den Strand krachen, bevor die Rechner mit der Analyse der Messdaten fertig wären. "Wenn das System überlebt, können wir immerhin Hawaii, Japan und Korea warnen", sagt Pirenne mit leisem Sarkasmus.

Dennoch – mit dem ungewöhnlich weit verzweigten Netz haben er und seine Kollegen Forschungsmöglichkeiten geschaffen, die sonst keines der existierenden Multi-Sensor-Observatorien zu bieten hat, weder das Vorreiter-Netzwerk Venus, das seit 2006 zwischen Vancouver und Vancouver Island die Geschehnisse im Meer aufzeichnet, noch das Mars-Observatorium vor der Küste Kaliforniens. Nur das European Sea Floor Observatory Network (Esonet) könnte Neptune demnächst übertrumpfen: Ein internationales Forschungskonsortium unter Federfüh- rung europäischer Wissenschaftler will in den Seegebieten rund um Europa ein Unterwasser-Observatorium aus insgesamt zwölf Messnetzen installieren. Im Mittelmeer soll es Daten für Erdbebenvorhersagen liefern, in der arktischen See das Absinken von Tiefenwasser beobachten und vor Irland die dortige biologische Vielfalt in Augenschein nehmen sowie mögliche Öl- und Gasvorkommen untersuchen. Unzählige Sensoren und mehrere Tausend Kilometer Kabel müssen zu diesem Zweck verlegt werden – ein gigantischer Aufwand, auch finanziell. Bis zur Einweihung wird Esonet voraussichtlich – je nach endgültiger Länge des Kabelnetzes – zwischen 130 und 220 Millionen Euro verschlingen, hauptsächlich aus der EU-Kasse. Den späteren Betrieb müssen die beteiligten Länder, darunter auch Deutschland, dann selbst finanzieren.

Eigentlich sollte der Messgigant schon 2013 komplett ans Netz gehen. Das Projekt kommt jedoch langsamer voran als vorgesehen. Zwar ist der Anfang gemacht: An der Station "Hausgarten" vor der Südspitze Grönlands sammeln Sensoren schon seit 1999 dauerhaft Daten. Hier fehlt nur noch der Kabelstrang zum Festland, um als richtiges Observatorium mit Daten in Echtzeit durchzugehen. Und an der Tiefseewarte SN-1 vor der Ostküste Siziliens gibt es bereits eine kleine Anlage mit kompletter Infrastruktur.

Von einem Messnetz rund um Europa ist man aber weit entfernt. Noch arbeiten die beteiligten 50 Partner daran, sich rechtlich, organisatorisch und technisch auf einheitliche Vorgehensweisen festzulegen. Die Datenformate etwa müssen so standardisiert sein, dass alle Programme in den verschiedenen Ländern sie lesen können, die Unterwassertechnik so, dass Geräte problemlos getauscht werden können.

"Das ist typisch europäisch. Erst groß planen, dann endlos diskutieren. Inzwischen hinkt Esonet etwa zehn Jahre hinterher", kommentiert Laurenz Thomsen den Stand des Projekts. Dennoch ist der Meeresgeologe zuversichtlich, dass der Messverbund kommt. Mit dem Netz komme man in deutlich tiefere Wasserbereiche hinein als bisher, ergänzt Christoph Waldmann von Marum, dem Zentrum für marine Umweltwissenschaften der Universität Bremen, das die deutsche Esonet-Beteiligung koordiniert. Liegen die Observatorien Venus und Mars etwa 300 beziehungsweise knapp 900 Meter unter der Wasseroberfläche, werden es bei Esonet bis zu fünf Kilometer sein. "Das erfordert völlig neue Methoden und Technologien, und das kostet einfach Zeit", erläutert der Meeresphysiker.

Bis 2011 werden jedoch die ersten Prototypen einsatzfähig sein, glaubt Waldmann. Zwei Jahre später könnte Esonet anfangen, als Netzwerk zu arbeiten, zumindest teilweise. "Bei aller Kritik an europäischer Langsamkeit – die zuständigen EU-Leute sind begeistert dabei und finden immer Wege in der Förderpolitik", sagt der Experte von Marum. "Das ist Europas Chance, weiterhin vorn mitzuspielen in der Meeresforschung." Und jeder, der möchte, kann mit dabei sein. Denn die neuen Beobachtungssysteme setzen auf Datenfreiheit. Schon jetzt veröffentlichen Neptune und Venus regelmäßig aktuelle Unterwasseraufnahmen bei YouTube und auf ihren eigenen Webseiten. Wenn vor den Kameraaugen der Netzwerke eine Krabbe posiert oder plötzlich Sediment einen Hang hinabrutscht: Venus bietet dafür sogar eine App fürs iPhone. (bsc)