Grobe Täuschung auf Rezept

Warum der Vorschlag der Bundesärztekammer, Scheinmedikamente gezielt in der Therapie einzusetzen, sehr zweifelhaft ist.

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Prof. Dr. Giovanni Maio lehrt Ethik der Medizin an der Universität Freiburg i. Br. und berät die Bundesregierung.

Anfang August ist eine Empfehlung des Wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer veröffentlicht worden, die noch für reichlich Diskussion sorgen dürfte. Denn der Beirat hat darin ausdrücklich dafür plädiert, im Hinblick auf die vorliegenden Erkenntnisse der medizinischen Forschung den sogenannten Placeboeffekt in Zukunft gezielt für die Behandlung von Patienten zu nutzen. Mit dem Placeboeffekt ist gemeint, dass Patienten nachweisbar auch auf Scheinmedikamente reagieren, die überhaupt keinen Wirkstoff enthalten.

Da der Patient also auch über vorgetäuschte Medikamente oft geheilt werden kann, solle man – so der Beirat – die angehenden Ärzte besser darin ausbilden, wie sich der Placeboeffekt gezielter und effektiver in der klinischen Praxis einsetzen lässt. Ethisch unerlässlich sei allerdings, dass der Patient vor der Behandlung aufgeklärt werde. Freilich auf eine Weise, die dann doch wieder verdeckt, dass er ein Placebo erhalten soll, weil die beabsichtigte Wirkung ja sonst fraglich ist.

Sicher ist es gut, wenn man Menschen auch mit weniger aufwendigen Mitteln helfen kann anstatt mit teuren echten Medikamenten. Und es mag auch sinnvoll sein, wenn man, wie der Beirat empfiehlt, auf diesem Gebiet mehr forscht. Aber die Empfehlung, zukünftig Patienten systematisch mit Placebos zu versorgen und sie bei der Aufklärung mit juristisch nicht anfechtbarer Formulierungsakrobatik zwar zu informieren, aber sie dennoch unwissend zu halten, muss doch schon sehr erstaunen.

Da wird gepriesen, wie wichtig eine vertrauensvolle Arzt-Patient-Beziehung sei, damit das Placebo seine Wirkung entfalte. Und es wird darauf verwiesen, dass es auf ärztliche Tugenden ankomme, damit man mit dem Placebo helfen könne – und niemand bemerkt die Doppelbödigkeit, mit der hier argumentiert wird.

Der Haupttenor der Empfehlung ist der Effizienzgedanke; man möchte alle Mittel nutzen, die einen Effekt haben, und sei es das Scheinmedikament. Das wirkt aber nur, wenn der Patient seinem Arzt glaubt und vertraut. Um diese Wirkung gezielt einzusetzen, muss aber der Arzt – das scheint nicht aufgefallen zu sein – genau das Gegenteil dessen tun, was die Wirkung des Placebos überhaupt ermöglicht: nämlich sich nicht vertrauenswürdig zeigen.

Die Empfehlung, mehr Placebos anzuwenden, ist gleichzusetzen mit der Empfehlung, Patienten zu täuschen. Dies geschieht zwar mit einer guten Absicht, aber es bleibt eine Täuschung. Daran kommt man auch dann nicht vorbei, wenn man den Patienten – wie in dem Dokument konkret vorgeschlagen wird – etwa so aufklärt, dass er "kein Standardmedikament erhalte, dass man aber aus der Placeboforschung wisse, dass auch diese Substanzen wirken".

Kaum ein Patient wird danach wissen, was tatsächlich mit ihm geschieht. Mit Respekt vor der grundsätzlichen Unverfügbarkeit des Menschen hat das wenig zu tun, weil hier der Patient ganz bewusst instrumentalisiert wird; es wird etwas mit ihm gemacht, wozu er keine direkte Einwilligung gegeben hat. Doch schlimmer noch – man lobt das Vertrauensverhältnis und empfiehlt dann genau das, was diesem diametral zuwiderläuft. Je mehr sich eine solche Praxis etabliert, desto mehr werden zukünftige Patienten Grund zum Argwohn haben, ob denn ihr Arzt ihnen tatsächlich eine Arznei verschreibt oder doch nur ein Scheinmedikament, wie von der obersten Standesvertretung empfohlen wird.

Dabei ist der Grundgedanke der Empfehlung eigentlich richtig: Ein Medikament wirkt nicht allein über seine Substanz, sondern in einem viel höheren Maße, als viele Ärzte wahrhaben wollen, über die Art der Begegnung, in der das Mittel verschrieben wird. Daher ist es erstaunlich, wie überrascht man tut ob dieses so selbstverständlichen und lebensweltlich alltäglich bestätigten Zusammenhangs. Aber geradezu fatal ist, dass aus dieser richtigen und wichtigen Wahrheit nun die falschen Schlüsse gezogen werden.

Wenn man dem Patienten eben nicht nur mit Medizin allein, sondern vor allem mit der Art der Beziehung helfen kann, dann erscheint es wenig logisch, die Vertrauensbasis zwischen Arzt und Patient durch das Verschreiben von Scheinmedikamenten zu torpedieren. Nein – genau das Gegenteil ist doch richtig! Man muss mehr in die positive Beziehung investieren und weniger in das Medikamentenrezept!

Die Empfehlung der Bundesärztekammer zeigt einmal mehr, wie gefangen die Medizin in ihrem naturwissenschaftlichen Denken ist. Sie glaubt, Menschen nicht nur mit wirksamen Arzneien helfen zu können, sondern auch mit Scheinmedikamenten, weil deren Effekt sich im Versuch beweisen lasse. Doch wozu braucht man Schwindelpillen, wenn man die Erkenntnisse der Placeboforschung ernst nimmt und anerkennt, dass es oft das Wort ist, das mehr hilft als das Rezept? Stattdessen spricht man bei der Wirkung dieser zwischenmenschlichen Begegnungsinhalte von einem Placeboeffekt, also von der Wirkung eines Mittels, das es gar nicht gibt.

Wenn die Beziehung wirkt, so wirkt sie gerade nicht als Placebo, sondern als Verum, weil das Wahre und therapeutisch Wichtige in vielen Fällen – wenn auch nicht in allen – die Zuwendung und die verstehende Teilnahme ist und nicht das Medikament. Für diese Einsicht sollte man Studierende in ihrem Studium mehr sensibilisieren, anstatt ihnen beizubringen, wie man Patienten in ihrem vermeintlichen Interesse effektiver täuschen kann. Dieser Vorschlag ist kein Fortschritt, sondern ein Bärendienst an dem gepriesenen Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient. (bsc)