Kammer 7, Faktor 10

Stellenweise lesen sich die nüchternen technischen Beschreibungen der Strahlenschützer, als ob man in der Asse Tut-Ench-Amuns Grabkammer oder den Sarkophag von Tschernobyl öffnen würde. Dabei ist die Einlagerung des dort vergrabenen atomaren Abfalls keine 50 Jahre her

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Das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) hat nach eigenen Angaben mit der sogenannten "Kalterprobung" für das untertägige Anbohren der ersten Einlagerungskammer im Atommüll-Endlager Asse II begonnen. "Ziel der Kalterprobung ist es, das Bohrgerät mit dem Bohrdatenschreiber, die notwendigen Sicherheitseinrichtungen (Preventer) sowie die Erkundungsgeräte (Magnetik- und Radarsonden) zu testen", heißt es auf der Asse-Informationsseite. "Der Preventer hat die Aufgabe, das Bohrloch während des Anbohrens der Kammer abzudichten. Dadurch wird gewährleistet, dass aus den Einlagerungskammern keine radioaktiven Partikel über Gase, Stäube oder Flüssigkeiten über das Bohrloch austreten können."

Klingt gruselig? Stellenweise lesen sich die nüchternen technischen Beschreibungen des BfS, als ob die Jungs da unten irgendwas zwischen Tut-Ench-Amuns Grabkammer und dem Sarkophag von Tschernobyl öffnen würden. Dabei ist die Einlagerung keine 50 Jahre her. Und eigentlich ist in der Asse nicht mal der wirklich heiße Stoff - "nur" schwach- und mittelaktive Abfälle. Zudem hätte das Zeug, das da gelagert worden ist, lückenlos dokumentiert sein müssen. Aber die Projektgruppe Jülich des Helmholtz-Zentrums München (HMGU) hat – ebenfalls Ende vergangener Woche – einen neuen Bericht zum radioaktiven Inventar der Schachtanlage Asse II veröffentlicht, der den Glauben an die sprichwörtliche deutsche Gründlichkeit nachhaltig erschüttert

So sind laut Pressemitteilung wahrscheinlich 14.799 Fässer mit so genanntem mittelaktiven Müll befüllt. Das BfS als Betreiber und das für die Aufsicht zuständige Land Niedersachsen gingen bislang davon aus, dass in dem Bergwerk lediglich insgesamt 1293 Fässer mit mittelradioaktivem Müll deponiert wurden. Das ist ein Faktor 10! Nach Durchsicht der Akten haben die Experten jedoch festgestellt, dass es damals offenbar gängige Praxis war, die Fässer vor dem Deponieren soweit abzuschirmen, dass der Müll nach den Werten der Aktivitätsmessung an der Außenhülle in die Kategorie "schwach radioaktiv" fällt.

Wenn bei den Test alles glatt läuft und die erforderliche Genehmigung des niedersächsischen Umweltministeriums rechtzeitig vorliegt, will das BfS noch im November die Einlagerungskammer 7 anbohren. Dort sind zwischen 1977 und 1978 mehr als 4.300 Fässer mit radioaktiven Abfällen gestapelt oder abgekippt worden. Die Experten gehen davon aus, dass die Abfallgebinde dabei zum Teil zerstört worden sind und dass radioaktives Material ausgetreten ist. Mit den Bohrungen in Kammer 7 wollen sie also zunächst einmal ermitteln, wie stark die Atmosphäre in der Kammer verstrahlt ist, und ob in Folge von chemischen Reaktionen gegebenenfalls toxische Gase freigeworden sind. Danach will das BfS dann die Kammer Nr. 12 anbohren – eine Kammer, in der vermutlich auch Uran oder Plutonium aus der Wiederaufarbeitung gelagert worden ist.

Wie passt das zusammen mit den Berichten und Kommentaren über das Energiekonzept der Bundesregierung – und die damit verbundene Laufzeitverlängerung der deutschen Atommeiler? Laut Atomgesetz müssen die Betreiber atomarer Anlagen hinreichend vertrauenswürdig sein. Na ja, dicht gehalten haben sie ja damals, aber ob das im Sinne des Atomgesetzes ist?

Wohl gemerkt, ich will nicht behaupten, dass die vier großen Energieversorger direkt in den Skandal um die Asse verwickelt waren. Über 50 Prozent des strahlenden Inventars stammt aber aus dem damaligen Kernforschungszentrum Karlsruhe – dem damaligen Flaggschiff der deutschen Kerntechnologie. Dort muss, wenn man sich die Berichte und Analysen zu Asse so anschaut, eine Kultur der Verharmlosung und Verantwortungslosigkeit geherrscht haben, was den Umgang mit radioaktiven Materialien angeht. Eine solche Kultur entsteht nicht im luftleeren Raum – und sie pflanzt sich in der Regel weiter fort. Mich würde daher brennend interessieren, wie junge Ingenieure und Strahlenschützer heute über die Asse denken. (wst)