Verriss des Monats: Schirmgrenze und Schamgrenze

Es kommt der Herbst und wir müssen über Schirme sprechen - und fehlgeleitete Innovationskraft.

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Von
  • Peter Glaser

Die Kunst des gepflegten Verreißens zweifelhafter Produkte ist ein wenig aus der Mode gekommen. An dieser Stelle präsentiert unser Kolumnist Peter Glaser einmal im Monat deshalb eine Rezension der etwas anderen Art: Den Verriss des Monats. Vorschläge für besonders zu würdigende Produkte werden gerne per Mail entgegengenommen.

Es gibt eine Grenze, an der Kultur in komplettes Knalltütentum konvertiert. Der sogenannte Dogbrella ist ein in mehrfacher Hinsicht exemplarisches Objekt, an dem sich dieser Übergang illustrieren lässt. Es ist ein Regenschirm für kleine Hunde ("less than 24" long"), der aussieht wie ein in einer Sturmbö umgestülpter Menschenregenschirm. Schon der Name ist ein Fehlgriff – Dogbrella setzt sich aus zwei Worten zusammen, die nicht zusammenpassen. Wie Fremde in einem vollen Bus werden sie aneinandergepresst. Das entstandene Kompositum "Dogbrella" ist unelegant und hässlich, ein Wortmonster wie "Eurogress" oder "Teichbau Inter-Koi". Es spricht von dem, was es nicht kann.

Das kleine technische Hilfsmittel gibt sich funktional, mit eingebauter Leine, die dazu führen soll, dass der Hund den Beschirmungsradius nicht verlässt, nicht nass wird und in der Folge nicht anfängt, stark nach Hund zu riechen. Aber schon auf den ersten Blick ist zu erkennen, dass die Schirmglocke, wenn das Tier auch nur geringfügig zieht, sich nicht mehr über, sondern hochgekippt hinter ihm befinden wird, wie die Antennenschüssel eines Downlinks. Auch wenn der snobistische Ton der Produktbeschreibung eine gewisse Witzischkeit anklingen lassen möchte, ist die Vorrichtung nicht als Gag gedacht. Es ist der Versuch, einen in einer Sturmbö umgestülpten Regenschirm als nützliche Neuerung zu verkaufen. Kompletter Käse.

Bemerkenswert ist, dass Regenschirme offenbar mehr als viele andere Technologien zu Experimenten entlang dieser Knalltütengrenze reizen. So gibt es etwa eine japanische Schirmkugel, die an Buckminster-Fuller-Kuppeln erinnert und immerhin ein tatsächliches Regenschirmproblem abmildert, nämlich seitlichen Regeneinfall (auch Künstler inspiriert der Buckyball-Schirm). Es gibt Umbrella Transformer, die, gleichfalls knapp diesseits der Dämlichkeitsdemarkationslinie, die Verwandlungsfähigkeit von Regenschirmen unter Beweis zu stellen versuchen, hier die vom Schirm zur Tragetasche. Es gibt eine Schirmschulterhalterung für Frauen, die beide Hände voller Einkaufstüten haben, und bei der einen, ähnlich wie bei dem Hundeschirm, Zweifel befallen, ob der verheißene Nutzen noch stattfindet, wenn das Ding sich an einem Körper in Bewegung befindet. Es gibt die dem Hundeschirm geistesverwandten Schirmhüte des Modedesigners Alexander McQueen, Gott hab ihn selig und den vollends jenseits von Gut und Böse angesiedelten Armbrella, dem allerdings nicht Dummheit, sondern künstlerische Freiheit auf den Weg geholfen haben.

Es gibt auch einen "intelligenten" Schirm, der über Leuchtsignale im Griff das Wetter prognostiziert. Sho Hashimoto und Takashi Matsumoto von der Keio-Universität in Tokio haben das Prinzip erweitert und "Pileus" entwickelt, einen Regenschirm, den man auch als Monitor verwenden kann (hier mit Video). In seinem Griff sind unter anderem ein drahtloser Netzzugang, eine kleine Digitalkamera und ein zierlicher Projektor untergebracht. Fotos, die man mit dem Schirmgriff schießt, werden automatisch auf Flickr eingestellt. Alle Flickr-Fotos mit der individuellen Kennung des Regenschirms können anschließend in den Projektor im Schirmgriff geladen und nach oben auf den Schirmstoff projiziert werden. Die Konstrukteure sehen den Schirm als mobilen Browser, der dafür sorgen soll, dass aus einem Regentag ein Vergnügen wird. Ist ein weiterer Schirmnutzer in der Nähe, kann man sich gegenseitig Bilder oder Videos schicken. In Entwicklung ist ein GPS-System für den Schirm und diverse Google Maps-Anwendungen.

Skeptiker zweifeln den Wert eines solchen Schirms an. Aber das Aufkommen jeder neuen Technologie war von Zögerlichkeiten begleitet, etwa die Einführung des elektrischen Lichts. 1882 hatte mit Edisons Glühbirnen die künstliche Beleuchtung Einzug in die USA gehalten. In Paris gingen die Damen damals aus Angst vor dem stechenden Licht der öffentlichen Lampen nachts noch mit Schirmen durch die Straßen. Nun haben wir neuerlich eine Technologie mit Schirmen, und neuerlich werden Wege als auch Irrwege beschritten.

Dass viele dieser Schirm-Derivate in Japan entwickelt werden, ist kein Zufall. Japaner verfügen über eine der unseren haushoch überlegene Regenschirmkultur. Sobald es zu tröpfeln beginnt, materialisieren überall Wegwerfregenschirme für 300 Yen (knapp zwei Euro). In Restaurants, Hotels und Kaufhäusern gibt es neben den Eingängen Regenschirmeinwickelmaschinen, in denen der nasse Regenschirm mit einer kondomartigen Plastikhülle überzogen wird. Einem Japaner wäre es im höchsten Maß unangenehm, den Fußboden mit seinem Schirm nass zu tröpfeln. Wenn man rausgeht, steckt man den Schirm in die neben der Einwickelmaschine stehende Regenschirmauswickelmaschine. Sie zieht die nasse Plastikhülle ab und behält sie ein.

Verwunderlich ist, dass der Flickr-Schirm mit dunklem Stoff bespannt ist. Derlei Schirme sieht man kaum in japanischen Metropolen. Die üblichen Wegwerfschirme sind durchsichtig – genau wie der Dogbrella –, da es sonst ständig Kollisionen geben würde, während man sich durch die Menschenmassen bewegt. Vielleicht sollten die Schirmingenieure auch Abstandssensoren in den Schirmgriff integrieren und visuelle Kollisionswarnungen auf den Schirmstoff projizieren. Vielleicht sollten sie's aber auch einfach bleibenlassen, warten, bis es wieder etwas wärmer wird und barfuß durch den Regen spazieren. ()