Guter Kohlenstoff, böser Kohlenstoff

Der diesjährige Nobelpreis für Physik hat mich erstaunt, weil er ein deutliches forschungspolitisches Signal ist: Graphen ist gewissermaßen der Obama unter den Nanomaterialien.

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Von
  • Niels Boeing

Wir alle wissen, dass der Friedensnobelpreis ganz unverhohlen ein politisches Signal ist. Dabei setzt sich das Nobelpreiskomitee, das aus Mitgliedern des norwegischen Parlaments bestimmt wird, auch schon mal gehörig in die Nesseln – so im vergangenen Jahr mit der Auszeichnung Barack Obamas, die diesem selbst etwas peinlich war. Schließlich hatte Obama noch nichts Weltbewegendes vorweisen können außer einfach nur gewählt worden zu sein.

Doch auch die wissenschaftlichen Nobelpreise können inzwischen politische Signale sein. Ich war jedenfalls erstaunt, als vergangene Woche der Nobelpreis für Physik 2010 für Forschungsarbeiten an Graphen vergeben wurde. Diese Form des Kohlenstoffs, in der die Atome in einem Wabenmuster zu einer ausgedehnten Fläche angeordnet sind – quasi einlagiges Graphit –, wurde theoretisch zwar schon vor Jahrzehnten beschrieben. Aber erst ab 2004 konnten prototypische Anwendungen mit den ultradünnen Kohlenstofffolien realisiert werden.

In der Nanoszene hatte man eigentlich seit längerem mit der Auszeichnung eines anderen Nanomaterials aus Kohlenstoff gerechnet: den "Nanotubes". Die eleganten Röhrenmoleküle entwickelten sich schon bald nach ihrem ersten eindeutigen Nachweis 1991 zu der Ikone der Nanotechnik schlechthin.

Im April 2000 zierte ein Nanotube-Transistor das Cover von Nature. Die Liste der Anwendungen wurde immer länger: als Material für die Kabel des hypothetischen Weltraum-Aufzugs, als Verstärkung von Kunststoffen, als Medikamenten-Container für Krebstherapien, als Messfühler in Sensoren, als Elektronenleiter in Plastiksolarzellen... Nanotubes galten als Wundermaterial, lange bevor Graphen auf der Bildfläche auftauchte. Eine Auszeichnung durch die Königlich-Schwedische Akademie der Wissenschaften schien nur eine Frage der Zeit.

Dass Graphen den Nanotubes nun den Rang abgelaufen hat, ist jedoch kein Zufall. Nicht nur sind viele Nanotube-Anwendungen in den vergangenen 19 Jahren nicht über Labordemos hinausgekommen. Die Röhrenmoleküle stehen längst auch für die dunkle Seite der Nanotechnik: Unter bestimmten Umständen haben sie eine toxische Wirkung, die der von Asbest vergleichbar ist. Zwar hängt ihre Toxizität davon ab, wie lang sie sind und ob sie verklumpt vorliegen. Doch diese Differenzierung schafft es selten in die Medien. Nanotubes sind für viele Zeitgenossen eine Art "Asbest 2.0".

Vor diesem Hintergrund kann man die Auszeichnung der Akademie dreifach interpretieren.

Erstens als Ansporn an die Forschung, die nicht minder vielfältigen Anwendungen von Graphen nun energisch voranzutreiben. Erst recht, da es in diesem Jahr gelang, erstmals Graphen-Bänder mit klar definierten Rändern herzustellen. Die sind für funktionierende und leistungsfähige Graphen-Transistoren notwendig.

Zweitens als Bemühen, keine schlafenden Hunde zu wecken. Von Graphen sind bislang keine toxikologischen Studien bekannt, die ein ernstzunehmendes Gefährdungspotenzial belegen. Ein Nobelpreis für Nanotubes hätte mindestens Stirnrunzeln hervorgerufen, wahrscheinlich sogar die Debatte um Nanorisiken neu angeheizt.

Und drittens als Versuch, Nanotechnologien wieder ein wenig zu pushen, da vom früheren Hype um sie nichts mehr übrig geblieben ist. Der letzte Nobelpreis, der sich explizit auf die neue Nanoforschung bezog, war der von 1995 für die Entdeckung der Fullerene (die Auszeichnung von Peter Grünberg und Albert Fert 2007 für die Entdeckung des Riesenmagnetwiderstandes könnte man auch hinzurechnen, weil der nur in wenige Nanometer dicken Schichten auftritt, aber der Effekt wird meist mit der Mikroelektronik assoziiert, wo er seine häufigste Anwendung findet).

So gesehen, erweist sich der diesjährige Nobelpreis für Physik als eine clevere Wahl: Graphen ist gewissermaßen der Obama unter den Nanomaterialien. Der Preis ist für mich ein deutliches Signal an die Nanotech-Community, ihre Prioritäten für die weitere Entwicklung neu zu justieren.

(nbo)