Erdbeben-Propaganda

Japans Gebäude sind so erdbebensicher wie die Häuser in keinem anderen Land. Doch statt uns Tokioter zu beruhigen, werden wir immer wieder an die Gefahr eines Mega-Bebens erinnert.

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Von
  • Martin Kölling

Japans Gebäude sind so erdbebensicher wie die Häuser in keinem anderen Land der Welt. Doch statt uns Tokioter zu beruhigen, werden wir immer wieder an die Gefahr eines Mega-Bebens erinnert.

Normalerweise können wir Tokioter die Angst vor dem drohenden Mega-Beben recht gut verdrängen. Gewiss, beim großen Kanto-Beben im Jahr 1923 starben hier rund 140.000 Menschen, 1995 löschte ein starkes Beben in Kobe mehr als 6000 Lebenslichter aus. Aber seither sind nur wenige Menschen bei Erdbeben ums Leben gekommen, auch wenn sie so stark wie das Beben waren, das im Januar Haiti verwüstet hat. Denn die Japaner errichten aus leidvoller Erfahrung die wohl erdbebensichersten Gebäude der Welt. Kein Wunder, nirgendwo bebt die Erde häufiger als hier.

Doch um uns aus wohlverstandener Fürsorgepflicht über die möglichen Folgen des in Bälde erwarteten neuen Kanto-Mega-Bebens aufzuklären, hatte mein Hausverwalter jüngst ein Plakat der Feuerwehr aufgehängt. Direkt neben dem Fahrstuhl konnten wir uns die Wartezeit damit vertreiben, mögliche Opferzahlen in Tokio zu studieren. Ein gruseliger Zeitvertreib.

Zwei Schreckensszenarien malt das Plakat aus: Einmal für ein Erdbeben der Stärke 7,3 (wie das Kobe-Erdbeben) an einem Winterabend um 18 Uhr, bei 6 Meter Wind pro Sekunde mit dem Epizentrum unter dem nördlichen Teil der Bucht vor Tokio (also just da, wo ich wohne) – und einmal für eines unter der Tama-Region im westlichen Zentrum Tokios. Die ausgerechneten Opferzahlen beeindrucken nicht nur durch ihre Genauigkeit, sondern auch ihre Höhe: Ein Beben direkt vor meiner Haustür soll 5638 Tote und 159.157 Verletzte fordern, eines im Westen immerhin noch 3365 Tote und 85.889 Verletzte.

Hört sich schlimm an. Aber ich atme bei den Zahlen innerlich fast auf, weil mir auch andere Schätzungen bekannt sind. Das vier Jahre alte amtliche Horrorszenario geht bei einem Erdbeben dieser Stärke unter der Bucht von Tokio bei allerdings stärkerem Wind von rund 11.000 Toten aus. Ein etwas leichteres Erdbeben unter Tokios Westen zur abendlichen Rush Hour würde demnach sogar 13.000 Todesopfer fordern, weil dort die großen Pendlerbahnhöfe liegen. Shinjuku zum Beispiel mit über vier Millionen Passagieren pro Tag oder Ikebukuro mit über drei Millionen Passagieren pro Tag.

Ein Erdbeben der Klasse 8 wie vor 87 Jahren hat die Regierung wohlweißlich erst gar nicht durchgerechnet. Was sollte es für einen Zweck haben, zu wissen, dass womöglich hunderttausende Menschen sterben, erklärte mir ein Erdbebenexperte der Regierung den Verzicht. Das würde die Menschen nur lähmen und damit eine Erdbebenvorsorge behindern. Und zur Vorsorge will uns die Feuerwehr mit dem Plakat ja auch anhalten.

Nun gut, Erdbebenvorsorge und -verhalten sieht in etwa so aus: Ganz oben auf der Prioritätenliste steht das tägliche Gebet, dass man bitte nicht in der Stadt sein möge, wenn das große Beben trifft. Ansonsten wird man angehalten, umgerechnet rund 1000 Euro Bargeld, mehrere Liter Wasser und Lebensmittelvorräte daheim zu bunkern, für den Fall, dass ein Beben Bargeldautomaten und/oder Versorgung ausschaltet. Zudem tut man gut daran, schwere Bücherregale, die umfallen könnten, nicht gerade neben das Bett zu stellen. Mit zur Standardausrüstung gehört ein Rucksack mit Erste-Hilfe-Kasten, Wärmedecke, Radio, Taschenlampe sowie Notversorgung.

Wer will, kann sich zudem seit einigen Jahren auch einen Erdbebenwarndienst auf den Computer laden. Der Dienst gibt automatisch an, wann die Erdbebenwelle mit welcher Stärke den eigenen Standort trifft. Ist man direkt im Epizentrum, wird der Dienst zwar nichts nützen, weil die Stoßwelle vor der Warnung eintrifft. Für den Rest der Anrainer kann allerdings selbst eine Vorwarnzeit von wenigen Sekunden im Großen und Ganzen gesehen den Schaden begrenzen. Firmen können beispielsweise ihre Rechner und Maschinen herunterfahren, Arbeiter zur Seite springen.

Trifft einen ein Beben, sieht das Verhalten in etwa so aus: Beginnt die Erde zu wackeln, schaut man auf und wartet ein bisschen ab, ob es stärker wird. Schwanken und Ächzen des Hauses werden als normal notiert und lassen den Blutdruck nur kurz ansteigen. Erst wenn etwas im Regal umfällt, beginnt die Angst durch den Verdrängungspanzer zu kriechen. Rutschende Möbel melden große Gefahr. In dem Fall raten die Erdbebenberater dazu, sich sofort möglichst unter einen Türrahmen zu stellen, aufs Klo gehen (wo die dicht beiander liegenden Wände mehr Schutz gegen Trümmer bieten sollen) oder unter den Tisch kriechen.

Höchst umstritten ist dagegen die noch recht junge, oft durch Massen-Emails verbreitete Theorie vom "Dreieck des Lebens", die genau vor der traditionellen "Drop, cover and hold on"-Taktik warnt. In seinen Schriften warnt der als Hochstapler verschriene Autor Doug Copp davor, dass beispielsweise Tische "immer" unter dem Gewicht der Trümmer zusammenbrechen und die Schutzsuchenden platt drücken. Stattdessen rät er dazu, dass man sich an die Wand, neben das Bett, Sofa oder Auto legen soll, wo sich im Falle herabstürzender Balken oder Betonplatten oft ein relatives sicherer Raum bilden würde. Dieses Dreieck gibt es wohl schon, sagen andere Experten, nur ist das Problem, dass sich selbst schwere Gegenstände bei Erdbeben seitlich stark bewegen und neben ihnen Schutz suchende zerdrücken können. Nicht alle seiner Aussagen sind jedoch irrsinnig, wie Marla Petal in einer fundierten Kritik des windigen Copp beschreibt.

Wie dem auch sei, viel Zeit zum Nachdenken hat man jedenfalls nicht. Es würde noch jeder Menge Forschung bedürfen, um festzustellen, ob irgendein bestimmtes Verhalten besser als Glück ist, den Kollaps eines Gebäudes zu überleben, meint ein anderer Experte. Also, so sein Ratschlag, Kopf und Nacken nach Möglichkeit schützen und abwarten. Bei einem Zusammenbruch eines der neuen schicken Geschäfts- oder Wohnhochhäuser muss man sich wohl ohnehin um all das keine Sorge machen, da die Chancen groß sind, dass man dann tot ist. Ansonsten hoffen wir Tokioter weiterhin, dass wir nicht gerade in oder neben einem der kollabierenden Gebäude sind. Und in der erdbebenfreien Zeit tut man so, als ob es nie ein Erdbeben geben könnte. Hört sich vielleicht etwas fatalistisch an. Aber was soll man anderes tun, als einfach zu leben. (bsc)