Zehn Jahre Virtual Reality: Diese Vorhersagen aus dem Jahr 2015 erfĂĽllten sich
Der VR-Pionier Jesse Schell prophezeite 2015, wo Virtual Reality 2025 stehen wĂĽrde. Hatte er mit seinen Prognosen recht?
Messebesucher mit VR-Brillen im Jahr 2016.
(Bild: Meta)
Vor zehn Jahren setzte Virtual Reality zum Sprung in den Massenmarkt an. Im Frühjahr 2016 erschienen Oculus Rift und HTC Vive und wenig später brachte Playstation VR die Technologie erstmals in die Wohnzimmer.
Wie viele technologische Neuheiten wurde auch Virtual Reality von einem massiven Hype begleitet. Ende 2015 formulierte der VR-Pionier Jesse Schell in einem Vortrag 40 Prognosen zur Entwicklung von Virtual Reality bis 2025. RĂĽckblickend geben sie einen faszinierenden Einblick in das damalige Stimmungsbild sowie in die Hoffnungen und Visionen einer aufkeimenden Branche.
(Bild:Â Schell Games)
Jesse Schell arbeitete bereits in den 1990er-Jahren bei Disney an VR-Projekten. Später gründete er eine Spielstudio, verfasste ein Standardwerk zu Game-Design und entwickelte stilprägende VR-Spiele. Neben seiner Rolle als Studiochef lehrt Schell an der Carnegie Mellon University, wie man virtuelle Welten entwirft.
Zehn Jahre nach dem Neustart der VR-Branche bietet sich ein Rückblick an, der sich an Jesse Schells Prognosen orientiert und Bilanz zieht: Welche Annahmen erwiesen sich als spektakuläre Fehleinschätzungen, wo lag er überraschend richtig und welche Entwicklungen hat Schell sogar unterschätzt?
Marktprognosen im Rausch der Erwartungen
Jesse Schell formulierte seine Prognosen auf dem Höhepunkt des VR-Hypes. Entsprechend realitätsfern wirken seine Marktvorhersagen rückblickend. Schell ging von einem exponentiellen Wachstum aus: Tragbare VR-Brillen sollten sich bis 2022 eine Milliarde Mal verkaufen, angetrieben durch günstige und technisch primitive Smartphone-Halterungen wie Samsung Gear VR und Google Daydream. Tatsächlich wurden diese Ansätze bereits 2019 mangels Erfolgs eingestellt.
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Schell behielt Recht mit der Annahme, dass Gaming die Verbreitung von Virtual Reality antreiben würde, aber überschätzte, wie stark. Auch die technisch anspruchsvolleren, kabelgebundenen VR-Brillen für Spieler, wie Oculus Rift, HTC Vive und Playstation VR blieben weit unter Schells Erwartungen. Während letztere sich rund fünf Millionen Mal verkaufte, veröffentlichte Sony zum Nachfolger nicht einmal Verkaufszahlen. Trotz eines Jahrzehnts kommerzieller Entwicklung macht die VR-Spielebranche bis heute weniger als ein Prozent des Gesamtumsatzes der Spieleindustrie aus.
(Bild:Â Meta)
Schells Vorhersagen waren von der Überzeugung getragen, dass Spieler „gelangweilt“ seien, sich nach neuen Erfahrungen sehnten und Virtual Reality dieses Bedürfnis stillen würde. Tatsächlich erwiesen sich Gamer als deutlich konservativer als erwartet, was sich an weitgehend unveränderten Spielgewohnheiten ablesen lässt. Darüber hinaus unterschätzte die VR-Branche ganz grundsätzlich die Hemmschwelle, schwere Technik im Gesicht zu tragen und beim Spielen körperlich aktiv zu sein. Am Ende siegte nicht die Innovation, sondern die Trägheit.
Mit dem Ausbleiben des großen Marktdurchbruchs blieb auch der erwartete kulturelle Einfluss von Virtual Reality begrenzt. Schells Annahme, es werde eine breite Kulturdebatte geben, in der über VR-Sucht berichtet und Amokläufe auf VR-Spiele zurückgeführt würden, hat sich nicht bewahrheitet.
Schell sah die technologische Entwicklung voraus
Erstaunlich treffsicher waren Schells technologischen Prognosen. So sagte er voraus, dass bis 2022 der GroĂźteil des Umsatzes auf autarke VR-Systeme entfallen wĂĽrde. Diese Vorhersage erfĂĽllt sich schon 2020, dem Erscheinungsjahr der Meta Quest 2, der bislang erfolgreichsten VR-Brille.
Seine Annahme, dass es bis 2025 keine kabelgebundenen VR-Systeme mehr geben würde, trifft größtenteils zu: Kabelgebundene VR-Brillen sind nicht verschwunden, stellen jedoch eine kleine Minderheit dar. Selbst Valve setzt mit der Steam Frame auf Streaming und verzichtet damit auf das Kabel, das noch beim Vorgänger Valve Index zum Einsatz kam. Gleichzeitig könnte sich der Trend in den kommenden Jahren erneut drehen: Apple Vision Pro und Samsung Galaxy XR nutzen eine kabelgebundene Batterie und für Metas nächste VR-Brille könnte das ebenfalls gelten.
Die folgenden Vorhersagen stammen aus einem GDC-Vortrag vom März 2016, in dem Schell einige seiner 40 Prognosen überarbeitet hatte. Sie wurden für diesen Beitrag ins Deutsche übersetzt.
Prognose 1: 2016 werden VR-Brillen dauerhaft im Massenmarkt angekommen sein.
Prognose 2: Bis Ende 2017 werden acht Millionen Gaming-VR-Brillen verkauft.
Prognose 3: Auf jede Gaming-VR-Brille werden vier mobile VR-Brillen kommen.
Prognose 4: Die Verkaufszahlen von VR-Brillen werden sich jährlich verdoppeln, bis eine Marktsättigung erreicht ist.
Prognose 5: Auf der CES 2017 werden rund 50 unterschiedliche VR-Brillen zu sehen sein.
Prognose 6: Sobald Sony zehn Millionen VR-Brillen verkauft hat, wird Microsoft eine VR-Brille fĂĽr die Xbox One ankĂĽndigen (vermutlich zur E3 2018).
Prognose 7: Bis 2022 wird der Großteil der VR-Umsätze auf tragbare, autarke VR-Systeme entfallen, die keine Smartphones nutzen.
Prognose 8: Bis Ende 2017 wird ein asymmetrisches Partyspiel zu den zehn erfolgreichsten VR-Spielen zählen.
Prognose 9: Madden 2018 wird eine VR-Version erhalten.
Prognose 10: Bis Ende 2018 wird ein neues, speziell fĂĽr VR entwickeltes Spielegenre entstehen.
Prognose 11: Bis Ende 2017 werden die Medien mindestens einen Amoklauf auf ein VR-Spiel zurĂĽckfĂĽhren.
Prognose 12: Bis Ende 2017 werden Berichte über „VR-Sucht“ regelmäßig in den Nachrichten auftauchen.
Prognose 13: Bis Ende 2018 werden mindestens drei Kinofilme erscheinen, die Ängste rund um VR thematisieren.
Prognose 14: Bis 2025 werden private VR-Heimvideos zu unseren wertvollsten Erinnerungsstücken zählen.
Prognose 15: Dokumentarfilme werden die ersten VR-Filme sein, die bedeutende Preise gewinnen.
Prognose 16: Bis 2020 wird VR-Pornografie ein Milliarden-Dollar-Geschäft sein.
Prognose 17: Bis 2020 wird es mindestens zehn Virtual-Reality-Reality-Shows geben.
Prognose 18: Dantes „Göttliche Komödie“ wird als Vorbild für gelungenes VR-Storytelling dienen.
Prognose 19: Bis Ende 2018 wird Comcast einen eigenen VR-Sender betreiben.
Prognose 20: Damit Spielfilme in VR funktionieren, mĂĽssen sie soziale Erlebnisse sein. Wie das gelingt, werden wir bis 2025 herausfinden.
Prognose 21: Bis 2025 wird der Großteil der VR-Umsätze aus sozialen Erlebnissen stammen.
Prognose 22: Bis 2018 wird eines der zehn erfolgreichsten VR-Spiele ein Tanzspiel sein.
Prognose 23: Bis 2025 wird der Markt fĂĽr VR- und AR-Brettspiele ein Volumen von rund 100 Millionen Dollar erreichen.
Prognose 24: Bis Ende 2020 wird es mindestens ein VR-MMO mit mehr als einer Million Abonnenten geben.
Prognose 25: Bis Ende 2018 wird es eine fĂĽhrende soziale VR-Plattform geben, und sie wird nicht von etablierten Anbietern stammen.
Prognose 26: Bis 2018 werden VR-Emotes sehr populär sein und einen ziemlich albernen Namen tragen.
Prognose 27: Im Jahr 2017 wird auf jeder US-amerikanischen Staatsmesse mindestens eine VR-Attraktion zu finden sein.
Prognose 28: Bis 2016 wird es weltweit mindestens 20 VR-Achterbahnen geben.
Prognose 29: Bis 2025 wird es Bowling mit AR-Brillen geben.
Prognose 30: Bis 2025 wird der AR-Markt von sogenannten „Video-AR“-Systemen dominiert.
Prognose 31: Es wird AR-Erlebnisse geben, die mit dem Fernseher synchronisiert sind.
Prognose 32: Bis 2025 werden Vorlesungen mit Augmented Reality weit verbreitet sein.
Prognose 33: Im Jahr 2025 wird das Jagen virtueller Wesen im eigenen Zuhause vor allem Kinder begeistern.
Prognose 34: Bis 2018 werden Gamer auf schmalere Brillen oder Kontaktlinsen umsteigen.
Prognose 35: Bis 2020 werden Hardcore-VR-Gamer Brillen mit Sehstärkenlinsen nutzen.
Prognose 36: Bis 2018 werden VR-Headsets mit Eye-Tracking verfĂĽgbar sein.
Prognose 37: Bis 2020 wird Foveated Rendering umgesetzt und bis 2025 wird es nĂĽtzlich sein.
Prognose 38: Bis 2025 wird es keine kabelgebundenen VR-Systeme mehr geben.
Prognose 39: Bis 2020 werden getrackte physische Objekte für VR und AR zum Standard gehören.
Prognose 40: Im Jahr 2025 werden euch Roboter in VR berĂĽhren, und es wird euch gefallen.
Eye-Tracking und Foveated Rendering reiften früher als von Schell erwartet und schafften es mit Playstation VR2 schon 2023 in ein Massenprodukt. Auch eine weitere Annahme erfüllte sich schneller als prognostiziert: Mit dem Erscheinen der Meta Quest 3 sind VR-Brillen mit Video-Passthrough zur dominierenden Form tragbarer AR-Geräte geworden, während echte AR-Brillen weiterhin Zukunftsmusik bleiben. Wie die meisten Experten unterschätzte auch Schell, wie schnell sich AR-Technologie entwickeln würde. 2025 sind Vorlesungen mit AR-Brille noch Science-Fiction, aber zumindest gibt es erste Gehversuche mit Mixed-Reality-Erlebnissen, die mit dem Fernseher synchronisiert sind.
Virtual Reality: Von Science-Fiction zum Alltagsprodukt
Wie steht es um Prognosen zur Software, die Virtual Reality prägen würde? Schell sagte korrekt voraus, dass soziale Apps das Medium dominieren würden. Er prognostizierte zudem, dass bis Ende 2018 ein neues, VR-spezifisches Spielgenre entstehen werde. Genau in diesem Jahr erschien Beat Saber und begründete das Genre der VR-Fitnessspiele, das seither unzählige Nachahmer hervorgebracht hat.
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Falsch eingeschätzt hat Schell, wie erfolgreich VR-Pornografie und wie verbreitet immersive Aufzeichnungstechniken sein würden. Bis heute halten nur Enthusiasten Erinnerungen mit speziellen VR-Kameras oder als Spatial Video fest. Was Schell damals nicht voraussehen konnte, sind neuere Entwicklungen: etwa Künstliche Intelligenz, die beliebige Fotos und Videos nachträglich um eine dritte Dimension erweitert, sowie Verfahren wie Gaussian Splatting, die eine schnelle und realistische 3D-Erfassung per Smartphone ermöglichen. Beides wird zur Verbreitung immersiver Erinnerungsmedien beitragen.
Auch wenn Schell die Marktentwicklung insgesamt überschätzte, lag er in einem Punkt richtig: Ein großer Teil der Menschen dürfte inzwischen mit Virtual Reality in Berührung gekommen sein. VR-Brillen haben sich von Science-Fiction zu einem selbstverständlichen Bestandteil der Unterhaltungselektronik gewandelt, der anders als in den 1980er- und 1990er-Jahren nicht wieder verschwinden wird.
(tobe)