Im Anfang war die Lochkarte: 100 Jahre IBM Deutschland

Am 30. November 1910 wurde in Charlottenburg die Deutsche Hollerith Maschinen Gesellschaft alias Dehomag gegründet, die heutige IBM Deutschland GmbH.

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Von
  • Ralf Bülow

Das Logo der Deutsche Hollerith Maschinen Gesellschaft m.b.H.

Heute vor 100 Jahren, am 30. November 1910, wurde im damals noch selbstständigen Charlottenburg die Deutsche Hollerith Maschinen Gesellschaft m. b. H. (Dehomag) gegründet. Erste Adresse der Firma war die Geisbergstraße 2, erster Direktor der fünfunddreißigjährige, in München geborene Willy Heidinger.

Hinter der Aktion stand der Lochkarten-Pionier Herman Hollerith, Chef der amerikanischen Tabulating Machine Company, die seine Maschinen baute und vermietete. 1910 schickte Hollerith den Ingenieur R. Neil Williams los, um im Deutschen Kaiserreich eine Partnerfirma auf den Weg zu bringen. Für eine Fertigung fanden sich keine Geldgeber, doch reichten die 120.000 Mark, die Willy Heidinger bei Freunden und Verwandten zusammentrug, für die Gründung einer Vertriebsgesellschaft.

Der erste Dehomag-Direktor Willy Heidinger

Mit importierten Lochkarten-Geräten, aber sonst eigenständig, übernahm die Dehomag die Auswertung der preußischen Volkszählung von 1910, außerdem stellten sich private Kunden ein, so die Chemiefirmen Bayer, Hoechst und BASF und die Elektroriesen Siemens-Schuckert, Osram und Brown-Boveri. Ein empfindlicher Rückschlag war 1913 der Wechsel von fünf der sieben Angestellten zur Konkurrenzfirma Powers, doch setzte die Dehomag 1914 mit 44 Kunden 250.000 Mark um und kam trotz blockierter Maschinenlieferungen gut durch den Ersten Weltkrieg. 1918 eröffnete sie in Villingen ein kleines Werk, das Kartenlocher, Kartenprüfer, Ersatzteile und Lochkarten produzierte.

Das Schicksalsjahr war 1922. Bis dahin hatte die Dehomag bei der Computing-Tabulating-Recording Company oder C-T-R, in der 1911 Herman Holleriths Firma aufgegangen war, Verbindlichkeiten von mehr als 100.000 Dollar angehäuft. Angesichts der deutschen Hyperinflation war an eine Begleichung nicht zu denken, sodass die C-T-R 90 Prozent der Anteile übernahm. Faktisch war die Dehomag eine Tochter der 1924 in IBM umbenannten US-Firma, gegenüber Kunden und Politik trat sie aber als urdeutsches Unternehmen auf und verdiente nach der Stabilisierung der Mark nicht schlecht.

1930 beschäftigte die Dehomag knapp 300 Leute und unterhielt Filialen in mehreren Städten. Am 8. Januar 1934 weihte sie in Berlin-Lichterfelde eine größere Fabrik ein, im Geist der neuen Zeit mit Sieg-Heil-Rufen und Absingen des Horst-Wessel-Liedes. Im Dritten Reich beherrschte sie den deutschen Lochkartenmarkt, und 1940 kletterte die Zahl der Mitarbeiter auf 2500, die der Filialen auf 59. Spitzenprodukt war die legendäre Tabelliermaschine D11: Mit Relais-Technik bewältigte diese die vier Grundrechenarten und konnte durch eingesteckte Kabel programmiert werden.

Ein wichtiger Dehomag-Kunden war die SS, und im Jahr 2001 entzündete sich eine internationale Debatte um den Anteil der Lochkartentechnik an der Ermordung der europäischen Juden. Sicher ist, dass in der Nazizeit die Bürger durch Zählungen und Karteien erfasst wurden, an denen Dehomag-Geräte mitwirkten, und dass solche Geräte in Konzentrationslagern standen. Ob auch Vernichtungslager auf Lochkarten-Daten zurückgriffen, blieb ungeklärt. Seit 2001 hat offenbar niemand mehr diese Frage erforscht, obwohl der Dehomag-Nachlass in einem deutschen Archiv erhalten blieb.

Von 1941 bis 1945 stand die IBM-Tochter als Feindeigentum unter Treuhand-Verwaltung, fertigte aber, soweit es die alliierten Bombenangriffe zuließen, Hardware und Lochkarten und kooperierte mit IBM-Filialen in neutralen oder von deutschen Truppen besetzen Ländern. Nach Kriegsende konzentrierte sie ihre Aktivitäten in Württemberg. 1948 wurde die Hauptverwaltung von Berlin nach Sindelfingen verlegt und am 6. Mai 1949 der Name „Internationale Büro-Maschinen Gesellschaft mbH“ angenommen.

Danach erlebte die deutsche IBM ihr eigenes Wirtschaftwunder. 1955 arbeiteten über 4000, 1965 schon über 12.000 Menschen für die drei blauen Buchstaben. Die Firma profitierte dabei vom weltweiten Erfolg der Systemfamilie /360; von den 5007 Computern, die laut Diebold-Statistik 1969 in der Bundesrepublik standen, kamen 2784 von der IBM. Betrachtet man den reinen Wert der vermieteten oder verkauften Anlagen, lag der IBM-Anteil sogar bei 64 Prozent.

In den goldenen 60er-Jahren fertigte die IBM nicht nur das populäre System 1401, sondern schuf für die 360er-Familie das Modell 360/20 und erfand die moderne Textverarbeitung. In den frühen Siebzigern entwickelte das IBM-Labor Böblingen unter anderem das Modell 370/115 und den Speicherchip "Riesling" mit 15000 Transistoren.

1972 zog die Hauptverwaltung nach Stuttgart um, und der Firmenname änderte sich zu IBM Deutschland GmbH. 1985 feierte das Unternehmen in großem Stil seinen 75. Geburtstag und leistete sich eine Wanderausstellung sowie eine 75 Seiten starke Zeitungsbeilage. Damals existierten vier IBM-Produktionsstätten – in Berlin, Hannover, Mainz und Sindelfingen. Von diesen ist allerdings am 100. Geburtstag nichts mehr übrig, sie wurden eine nach der anderen ausgegliedert und ihrem Schicksal überlassen.

2009 gab es den letzten Umzug von Stuttgart an den Rand des schwäbischen Ortes Ehningen, vor allem bekannt als Geburtsstätte des Streichholz-Erfinders Friedrich Kammerer. Die heutige IBM Deutschland sieht sich als "Marke" und als Bündel von Kernkompetenzen, unter denen das 1953 gegründete Böblinger Labor noch Weltruf genießt und eine gewisse Tradition verkörpert.

Von der alten Dehomag überlebten das wieder aufgebaute Fabrikgebäude in Lichterfelde sowie die Lochkarten-Druckerei in Sindelfingen aus den 1930er-Jahren. Sie beherbergt eine exzellente Sammlung von Computern und Lochkarten-Geräten sowie von Filmen und Videos zur IBM-Geschichte.

Siehe dazu auch:

(jk)