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Der Kultautor und Visionär Neal Stephenson bastelt am Roman der Zukunft - eine interaktive Welt, in der Autoren und Leser gemeinsam an einem Handlungsstrang weben.

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Von
  • Steffan Heuer
Inhaltsverzeichnis

Der Kultautor und Visionär Neal Stephenson bastelt am Roman der Zukunft – eine interaktive Welt, in der Autoren und Leser gemeinsam an einem Handlungsstrang weben.

Viel scheint das Leben für die kleine Nell nicht bereitzuhalten: Ihre Mutter kümmert sich kaum um sie, ihr Vater ist ein Nichtsnutz, ihr Bruder Anführer einer Straßengang. Doch als ihr die elektronische Fibel "A Young Lady's Illustrated Primer" in die Hände fällt, ändert sich alles: Die interaktiven Geschichten und Übungen des E-Buches lehren Nell zunächst lesen, schreiben, rechnen und kämpfen, später Menschenkenntnis und eigenständiges Denken. Dank ihrer Fähigkeiten steigt sie zur Heldin auf und verhindert schließlich einen Bürgerkrieg.

Als der US-Kultautor Neal Stephenson 1995 die Geschichte von Nell in seinem Roman "Diamond Age" veröffentlichte, waren interaktive Bücher wie der "Illustrated Primer" noch Science-Fiction. Mittlerweile ist die Wirklichkeit der Vision aber dicht auf den Fersen: Tablet-PCs und viele E-Book-Reader sind technisch gesehen längst Multimedia-Maschinen, bei denen sich Texte um Filme, Klänge und Fotos ergänzen lassen, und die ihren Nutzern ganz neue Erfahrungen jenseits des linearen Lesens ermöglichen können – wenn es denn entsprechende Inhalte, Ideen und Geschäftsmodelle für solche multimedialen Erzählungen gäbe.

Genau daran arbeitet kein Geringerer als Neal Stephenson selbst. Er hat eine E-Publishing-Plattform namens Subutai gegründet, die Prinzipien von Fortsetzungsromanen, Wikis, Fernsehserien, Computerspielen und Smartphone-Apps miteinander verbindet. Das literarische Werk wird so zu einem Stück Software, das man abonniert, um sich mit anderen Lesern auszutauschen und selber am Entstehen einer fiktiven Welt mitzuwirken.

Benannt wurde Subutai nach einem mongolischen Feldherrn von Dschingis Khan aus dem 13. Jahrhundert. Diese Verquickung von technischer Avantgarde und weit zurückliegender Historie ist typisch für Stephenson – für ihn sind Genregrenzen vor allem dazu da, überschritten zu werden. In seinen Werken geht es um Nanotechnik und japanischen Schwertkampf, Neurologie und fernöstliche Philosophie, Kryptografie und sumerische Religion. Spätestens seit seinem Zukunftsroman "Snow Crash" von 1992 gilt der 51-jährige Ingenieurssohn neben William Gibson als führender Autor des sogenannten Cyberpunk-Genres – und als treffsicherer Zukunftsvisionär. In "Snow Crash" beschrieb Stephenson – zu einer Zeit, als es noch nicht einmal das World Wide Web gab – ein virtuelles Universum, das frappierend an die 2003 entstandene Online-Welt "Second Life" erinnert. Auch der Begriff "Avatar" als Bezeichnung für das digitale Alter Ego in einer virtuellen Umgebung geht auf Stephenson zurück.

In der realen Welt kann man Neal Stephenson in einem Lagerhaus im Süden von Seattle treffen. Zwischen einem Fischhändler und einem Fliesengeschäft steht nur "Schule für Akrobatik und neue Zirkuskünste" an der Eingangstür. Vorbei an dicken Matten, Trapezen und Klettergerüsten führt ein schmales Treppenhaus hinauf zum Büro der Subutai Corporation. Der Konferenztisch ist eingerahmt von einer Küchenzeile, in deren Schränken sich statt Geschirr Bücher und DVDs zu Kampfsportarten stapeln. An der Wand hängen Repliken von Schwertern aus dem Mittelalter und der Renaissance. Mitten in diesem kreativen Chaos sitzt Stephenson im lindgrünen T-Shirt und Cargopants vor einem MacBook und krault sich den dichten schwarzen Bart, der seinen kahl geschorenen Kopf im Kunstlicht des Büros noch mehr glänzen lässt.

"Am Anfang standen zwei Ideen", erzählt Stephenson über den Beginn von Subutai. Zum einen fragte er sich, als er an seiner "Barock"-Trilogie schrieb, wie Schwertkämpfe früher wirklich abliefen. Was lag näher, als es vor laufender Kamera auszuprobieren? Zum anderen liebäugelte Stephenson schon seit Längerem damit, einmal das Drehbuch für einem Actionfilm zu schreiben. "Wir wollten damit erst zu einem Studio gehen und die übliche Hollywood-Route beschreiten", erinnert sich Stephenson. "Aber so hätten wir schnell die Kontrolle über alle unsere Rechte verloren. Also haben wir unsere eigene Welt geschaffen, die wir kontrollieren."

Um diese Welt aufzubauen, zu pflegen und zu vermarkten, hat Stephenson das Subutai-Geschäftsmodell auf drei Säulen aufgesetzt: Erstens auf das Zusammenspiel zwischen Autoren und Lesern, zweitens auf die Verbindung unterschiedlicher Medienformate, drittens auf die Vermarktung der Software-Plattform an andere Anbieter.