Information Blackout

Während die einen noch glauben, dass es mit voller Kraft ins Informationszeitalter geht, tun sich immer neue schwarze Löcher auf, in denen Wissenswertes verschwindet.

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Von
  • Peter Glaser

Am 35. Mai holt Onkel Ringelhuth seinen Neffen Konrad von der Schule ab. Auf dem Weg in die Wohnung des Onkels treffen sie ein sprechendes ehemaliges Zirkuspferd mit Namen Negro Kaballo. Dann fällt Konrad ein, dass er noch einen Aufsatz über die Südsee schreiben muss, und er versucht verzweifelt, in einem Lexikon ein paar Informationen zu finden. Es gelingt ihm nicht, und das Pferd schlägt vor, dass sie alle schnell mal die Südsee besuchen könnten. Auf dem Weg dorthin fahren sie mit der U-Bahn nach Elektropolis. Dort braucht niemand zu arbeiten, weil alles vollautomatisch geht. Gerade als die drei beginnen, den Ort als modernes Paradies anzusehen, wird alles durch eine gewaltige Überspannung zerstört...

Blackout in einer Maschinenwelt – eine moderne Geschichte. Aber "Der 35. Mai oder Konrad reitet in die Südsee" von Erich Kästner ist 1932 erschienen. Ein Jahr später gehörten die Bücher Kästners zu denen, die bei den Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten auf dem Opernplatz vor der Hedwigskathedrale in Berlin ins Feuer geworfen wurden. 32 Jahre später, im Jahr 1965, wurden wieder Bücher von Erich Kästner ins Feuer geworfen, diesmal in Düsseldorf von Mitgliedern des "Evangelischen Jugendbunds für entschiedenes Christentum". Auf die Frage eines Journalisten, was er an diesem Abend lesen werde, sagte Kästner, dass er sich etwas Aktuelles ausgesucht habe, nämlich die Rede zur Bücherverbrennung, die er schon sieben Jahre zuvor gehalten hatte.

Beinahe hätte auch ein anderer Bücherbrand sich wiederholt: Bei einem Feuer im Verwaltungstrakt der neuen Bibliothek in Alexandria wurden Anfang März 2003 dreißig Menschen verletzt. Die Bücher wurden alle vor den Flammen gerettet. Die Bibliothek ist eine moderne Version der berühmten Bibliotheca Alexandrina, ein 200 Millionen Euro teures Prestigeobjekt, das von außen an einen riesigen Mikrochip erinnert. Kurz vor dem Brand kündigte die Leitung der Bibliothek ein Großprojekt an: Jedes auf der Welt existierende Textarchiv solle hier online verfügbar gemacht werden, um die Lernmöglichkeiten in Entwicklungsländern zu revolutionieren, in denen Wissen schwer zugänglich ist. "Die Bibliothek steht als ein historisches Symbol der Toleranz und der Vernunft der Sorge der Menschen über Gewalt und Fundamentalismus gegenüber", sagt Ismail Serageldin, der Direktor.

Kritiker fragen sich allerdings, wie weit die hohen Ideale in einem Land verwirklicht werden können, in dem Zensur immer noch gang und gäbe ist. So gibt es in Ägypten Bestrebungen, die Gesamtausgabe von "Tausendundeiner Nacht" wegen der "zahllosen Obszönitäten" nur in Bibliotheken zu Studienzwecken auszuhändigen. Eine elektronische Version der Märchen hätte dadurch übrigens auch in den USA schlechte Karten: Zahlreiche Bibliotheken benutzen dort Filtersoftware, um pornografisches Material zu sperren – eine Voraussetzung, um an öffentliche Gelder zu kommen.

Bis zur Jahrtausendwende galt als ausgemacht, dass die Welt auf dem Weg ins Informationszeitalter ist. Mehr Transparenz würde die Entwicklung der Demokratie fördern, digitaler Zugriff auf Informationen Wirtschaft und Bildung prosperieren lassen. Viele sahen das Internet als Selbstgänger des Fortschritts. Spätestens nach dem 11. September 2001 wurde manchem Hightech-Euphorisierten klar, dass Information eine dunkle Seite hat: das Geheimnis. Die Generalidee eines gemeinsamen Wissensreichtums schloss sich wie eine Muschel. Politik und Militär trafen ihre Entscheidungen wieder hinter dem Schirm "klassifizierter" Information – Top Secret. Der Wunsch, durch eine Welt der Geheimnisse zu navigieren, führt zu bizarren Projekten und Produkten. Firmen wie Mitsubishi oder Koshida bieten beispielsweise Displays an, die nur mit einer Spezialbrille nutzbar sind (und die nicht an Privatpersonen verkauft werden). Betrachtet man den Bildschirm mit bloßem Auge, kann man nichts darauf erkennen. Erst wenn man die Brille aufsetzt, wird sichtbar, was die Maschine zeigt.

Das Information Security Oversight Office der US-Regierung hält penibel die Zahl der Dokumente fest, die in den USA jedes Jahr im Dienst der nationalen Sicherheit als geheim eingestuft werden. Mit dem Amtsantritt von Präsident George W. Bush nahm diese Art der Klassifikation massiv zu – allein bis zum Jahr 2004 von 9 Millionen auf 15,6 Millionen Dokumente. Die Behörden schränkten auch den Zugriff auf nicht klassifizierte Informationen ein.

Das Telefonbuch des Pentagon beispielsweise, das zuvor jeder kaufen konnte, ist inzwischen nur noch für den Dienstgebrauch erhältlich. Ein Verzeichnis der nicht mehr verfügbaren Informationen gibt es nicht. Steven Aftergood, der ein Forschungsprojekt über staatliche Geheimhaltung leitet, spricht vom "information blackout". Die Historikerin Anna Nelson fand bei einem Besuch im amerikanischen Nationalarchiv unter anderem Schachteln, "in denen Nixon-Dokumente sein sollten und die aber mit nichts als Entnahmekarten angefüllt waren". (bsc)