Magische Monokel

3D-Figuren, die Büchern entsteigen, vier junge Beatles, die in London die Abbey Road überqueren, oder ein Lego-Baukasten, der virtuell schon zusammengesetzt ist – Augmented Reality macht’s möglich.

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Von
  • Diane Sieger

Seit Jahrzehnten arbeiten Wissenschaftler und Ingenieure daran, die menschliche Realitätswahrnehmung computergestützt zu erweitern. Dank rasanter technischer Entwicklungen ist es in Bereichen wie Medizin, Ingenieurwesen und Unterhaltung bereits möglich, die Wirklichkeit durch visuelle Darstellungen zu erweitern und zusätzlich Informationen zu den sichtbaren Objekten einzublenden. Dank leistungsstarker Mobiltelefone, die mit den benötigten Hilfsmitteln Kamera, GPS-Empfänger und Internetverbindung ausgestattet sind, hält die Nutzung von Augmented Reality seit einiger Zeit auch Einzug in Otto Normalverbrauchers Hosentasche.

Einen Überblick über den aktuellen Stand der AR-Technik sowie einen kurzen Einblick in historische Entwicklungen bietet das zehnminütige Video beim Elektrischen Reporter, dem virtuellen Versuchslabor für Kurz-Video-Formate von ZDF und Handelsblatt. Im kurzweiligen Format wird knapp auf die Zeit eingegangen, in der AR sich noch in den Kinderschuhen befand, dann werden aktuelle Applikationen demonstriert. Gespickt mit interessanten Interviews ist der Clip eine sehenswerte Momentaufnahme zum Thema.

Als die ersten AR-Produkte für den Hausgebrauch in den Labors entstanden, waren Hochleistungsmobiltelefone noch lange nicht in Sicht. Geräte, mit denen man Informationsüberlagerung simulieren konnte, waren daher groß und klobig, etwa das aus Rucksack, Kopf-Display und Tablet bestehende System der Columbia University. Die Wissenschaftler des Computer Graphics and User Interfaces Lab entwickelten in den 1990er-Jahren ein Campus-Informationssystem, mit dessen Hilfe sie Gebäudenamen abrufen und auf weitere Informationen zur Fakultät zugreifen konnten. Eine Bilderreihe illustriert das Experiment. Angesichts der schweren Ausrüstung ist klar, warum sich dieses System nicht durchsetzen konnte – es war für den täglichen Gebrauch einfach zu unhandlich. Die Marschrichtung stimmte jedoch und ebnete den Weg zu aktuellen mobilen Applikationen.

Zwar ist Augmented Reality auch heute noch weit davon entfernt, Mainstream zu sein, doch verfügen immer mehr Nutzer über Smartphones, die mithilfe leicht zu installierender Applikationen und integrierter GPS-Empfänger sowie Kameras wertvolle Informationen oder einfach nur „Fun Facts“ zum Aufenthaltsort liefern. Wer sich beispielsweise in London befindet, kann sich über den Browser Layar auf Spurensuche nach den Beatles begeben. An 42 Orten der Stadt sind Fakten und 3D-Objekte abrufbar, die per Mobiltelefon eingeblendet werden. Hat man so die Musiker beim Überqueren der Abbey Road beobachtet, dann kann die georeferenzierte Suche nach Restaurants, Bars oder Stripclubs mit Applikationen wie AroundMe schon fast wie ein alter Hut erscheinen.

iPhone-Besitzer können in London nach der Beatles-Tour eine weitere Reise in die Geschichte der Stadt unternehmen. Das Streetmuseum versetzt sie wesentlich weiter zurück in die Vergangenheit, als es John, Paul, George und Ringo tun. Die kostenlose Applikation erlaubt einen Einblick in alte Zeiten, indem sie an historisch relevanten Orten antike Schwarz-Weiß-Bilder überlagert. Erhältlich ist die Application über das Museum of London sowie direkt im iTunes App Store.

Auch im Zeitschriftenmarkt experimentieren Verlage seit einiger Zeit mit dieser Technik. Ende 2009 erschien beispielsweise eine AR-Version des Printmagazins Esquire. Leser des Heftes konnten sich auf der Esquire-Webseite eine kostenlose Software herunterladen, mit der sie zusätzliche Informationen zu Fotos, Artikeln und Interviews abrufen konnten. Das Magazin der Süddeutschen Zeitung zog im letzten Jahr nach, wie iX im August berichtete.

Natürlich dauerte es nicht lange, bis auch die ersten Einzelhandelsgeschäfte die AR-Technik aufgriffen. Zu einem der ersten Shops, die Konsumentenentscheidungen durch realistische Darstellung der in Boxen verpackten Güter beeinflussen, gehört der Spielzeugriese Lego. In vielen Geschäften weltweit kann man sich fertig gebaute Lego-Produkte realitätsnah anschauen, indem man die Verpackung vor eine fest installierte Kamera hält. YouTube hält einige Videoclips bereit, die dieses Feature demonstrieren. Die AR-Anwendung vermittelt eine Vorstellung von den Größenverhältnissen des Endprodukts und hebt außerdem besondere Merkmale wie sich öffnende Türen und rotierende Propeller hervor. Dem Kunden wird das Produkt so anschaulich wie möglich vorgestellt, ohne die Verpackung öffnen oder die zum Teil zerbrechlichen Produkte im Verkaufsraum aufbauen zu müssen.

Nicht nur für Privatpersonen hat AR an Bedeutung gewonnen. Die Forscher arbeiten mit Hochdruck daran, industrielle Arbeitsschritte mithilfe neuer Methoden zu vereinfachen. In der Flugzeugwartung etwa gestaltet sich der Zugang zu einigen Stellen des Fliegers für Mechaniker sehr schwierig, da sie oftmals mit Werkzeugen, Kabelverlaufsplänen, Bedienungsanleitungen oder Notebooks bewaffnet sind. Verfügt der Techniker jedoch über alle nötigen Informationen via Mobiltelefon und Spezialbrille, hat er erhebliche Vorteile. An der University of Bologna hat man sich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt, Ergebnisse präsentiert die aktuelle Ausgabe des ComputerGraphics Magazin der IEEE Computer Society. Erhältlich ist der Artikel für 19 US-Dollar.

Die Mechaniker des U. S. Marine Corps testen eine ähnliche Anwendung – National Geographic erläutert, wie man durch Augmented Reality unterstützte Reparaturarbeiten durchführt. Der Techniker erhält bei Bedarf detaillierte Anleitungen eingeblendet. Das reduziert menschliches Versagen als Fehlerquelle, und der Techniker kann Arbeiten effizienter und genauer durchführen.

Dass der Einsatz von Augmented Reality auch in der Medizin sinnvoll sein kann, belegen Videoclips: Ein Clip über Volume Rendering und ein weiterer über Depth Perception beispielsweise zeigen, wie es Medizinern gelingt, mithilfe von AR in den Menschen hineinzusehen.

Beide Videos stammen übrigens aus Deutschland, denn hier wird intensiv daran gearbeitet, die Technik in der Medizin anwendbar zu machen. Am Lehrstuhl für Informatikanwendungen in der Medizin & Augmented Reality der Technischen Universität München werden derzeit unter der Leitung von Prof. Dr. Nassir Navab einige interessante Forschungsprojekte durchgeführt.

Wer jetzt Lust bekommen hat, selbst eine AR-Applikation zu entwickeln, aber nicht über die nötigen Programmierkenntnisse verfügt, findet im Web Mittel und Wege, sich in die AR-Welt einzuarbeiten. Einen guten Einstiegspunkt bildet das Human Interface Technology Laboratory New Zealand, HITLabNZ, das unter anderem das populäre Tool BuildAR entwickelt hat, mit dem man auch ohne detaillierte Programmierkenntnisse Szenen für Augmented Reality bauen kann. Auch das ARToolKit, die Softwarebibliothek des HITLab in den USA, bietet Hilfe für die ersten Schritte in der erweiterten Welt. (ka)