"Auf fast perverse Weise amüsant"

Jahrzehntelang haben Wirtschaftswissenschaft und Industrie das Innovationspotenzial von Verbrauchern übersehen. Welches Ausmaß es wirklich hat, erläutert Innovationsforscher Eric von Hippel im TR-Gespräch.

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Von
  • David Talbot

Wo kommen die meisten Produktinnovationen her? Angesichts des täglichen Nachrichtenstroms zu neuen Gadgets liegt die Vermutung nahe, die Quelle in der Industrie zu verorten. Weit gefehlt: Nach einer Studie von MIT-Forscher scheinen Verbraucher nicht nur viel innovativer zu sein als bislang angenommen, sondern auch mehr Innovationen anzuschieben als die Industrie. Technology Review fragte von Eric von Hippel, der an der Sloan School of Management am MIT lehrt, warum dies bisher von den Ökonomen übersehen wurde und wie sich Marktforschung und Unternehmen ändern müssen.

Technology Review: Herr von Hippel, Sie haben 1173 britische Verbraucher danach befragt, was sie mit Produkten so anstellen. Was kam dabei heraus?

Eric von Hippel:
Wir haben herausgefunden, dass 6,2 Prozent der britischen Bevölkerung – das sind 2,9 Millionen Menschen – in den vergangenen drei Jahren entweder eigene Produkte geschaffen oder bestehende zumindest verändert haben. Dafür gaben sie 2,3 Milliarden Pfund aus – mehr als doppelt so viel wie alle britischen Firmen, die Verbraucherprodukte herstellen, zusammen genommen.

TR: Was genau machen diese Menschen?

Von Hippel:
Sie programmieren beispielsweise ihre Waschmaschinen um, so dass die sich nur im Schleudergang nutzen lassen. Oder sie bearbeiten den Fressnapf ihres Hundes, damit er beim Fressen nicht mehr hin und her rutscht. Andere bauen Angeln so um, dass sie damit Bäume beschneiden können, wieder andere programmieren auch ihre GPS-Geräte um, damit die leichter bedienbar sind.

TR: Nun kennt jeder von uns Leute, die große Bastler sind. Was ist an Ihrer Studie so erstaunlich?

Von Hippel:
Das Ausmaß dieser Bastelei. Das war bislang so nicht bekannt. Man ist eigentlich immer davon ausgegangen, dass Verbraucher keine Innovatoren sind – jedenfalls nach der gängigen ökonomischen Theorie. Seit 1934...

TR: ...als die englische Ausgabe von Joseph Schumpeters „Theorie der ökonomischen Entwicklung“ herauskam...

Von Hippel:
...gilt der Lehrsatz, dass Innovationen von den Herstellern ausgehen. Schumpeter ging sogar davon aus, dass die Produzenten gar Bedürfnisse beim Verbraucher erschaffen. Deshalb hat niemand mehr das Innovationsverhalten der Verbraucher genauer untersucht. Und jetzt stellen wir fest, dass dessen Output doppelt so groß ist wie der von Herstellern.

TR: Aber haben Unternehmen solche nutzerseitigen Innovationen nicht längst für sich entdeckt?

Von Hippel:
Die übliche Herangehensweise an Innovationen in einer Firma ist, erst einmal Marktforschung zu betreiben, eine Zielgruppe zu finden und dann die Entwicklung im eigenen Hause anzuschieben. Das Problem daran ist, dass Marktforscher oft verkennen, dass in den Erzählungen der Verbraucher schon Lösungen enthalten sind.

Wenn etwa jemand sagt „Ich habe einen besseren Weg gefunden, um X zu machen“, notiert der Marktforscher: „Person Soundso möchte einen besseren Weg, um X zu machen.“ Die Lösung, auf die der Verbraucher gekommen ist, bemerkt er gar nicht. Denn er glaubt ja: „Eine Lösung zu finden, ist Aufgabe der Entwicklungsabteilung, nicht des Verbrauchers.“

TR: Das klingt geradewegs wie aus einem Dilbert-Cartoon.

Von Hippel:
In gewisser Weise ja. Die Sache ist auf fast perverse Weise amüsant.

TR: Was haben Sie noch herausgefunden?

Von Hippel:
Dank des Netzes sind die Innovationen von Nutzern heute viel besser sichtbar. Im Privaten kennen Sie vielleicht einen Onkel, der dies und das kann. Aber wenn Sie dann im Web sehen, wie Verbraucher etwa Software verbessern oder Rasenmäher hacken, merken Sie, dass es sich um eine eigene Kategorie von Innovation handelt.

TR: Warum wird die von Unternehmen ignoriert?

Von Hippel:
Lange Zeit war es sehr schwer, die Leute davon zu überzeugen, dass die Entwicklung von Produkten und Dienstleistungen durch Verbraucher immer wichtiger wird. Das liegt zum Teil auch daran, dass mit der Verbraucherinnovation ein Paradigmenwechsel eingesetzt hat – weg von der Hersteller-zentrierten Vorstellung von Innovation. Solange man das neue Paradigma nicht versteht, erkennt man die Innovationen der Nutzer einfach nicht, auch wenn sie offen vor einem liegen.

TR: Was können Unternehmen aus diesem Trend machen?

Von Hippel:
Die entscheidende Botschaft ist, dass sie an den fortschrittlichen Rändern der Märkte nach Innovatoren suchen sollten, nicht in der Mitte, wo die durchschnittlichen Verbraucher sind. Anders gesagt: Diejenigen, die heute ein starkes Bedürfnis nach etwas verspüren, werden die Innovatoren von morgen sein. Als Tim Berners-Lee damals am CERN war, benötigte er dringend neue Vernetzungsmöglichkeiten. Also schuf er das World Wide Web. Microsoft hingegen ging davon aus, dass es ein solches Bedürfnis nicht gab, weil sie sich auf den Durchschnittskunden konzentrierten.

TR: Wenn eine Firma auf die Lösung eines Verbrauchers gestoßen ist, wie geht es dann weiter?

Von Hippel:
Man muss sich für Lösungen von außen öffnen, was viele Entwicklungsabteilungen nicht tun. Unternehmen müssen nicht nur die Marktforschung ändern – also die Außenseiter im Blick haben –, sondern auch ihre Entwicklungsarbeit umstellen: nicht bei null anfangen, sondern auf den Lösungen von Verbrauchern aufbauen. Wie man das im Unternehmen umsetzt, kann man in einem kostenlosen Buch auf meiner Webseite nachlesen.


Die Studie:
Von Hippel, Eric et al.: „Comparing Business and Household Sector Innovation in Consumer Products: Findings from a Representative Study in the UK“, SSRN, Oktober 2010 (Abstract). (nbo)