Japan und der karbonschwarze Ablasshandel

Unbeschwert schlemmen geht in Japan nicht mehr. Auf immer mehr Lebensmitteln prangt ein "CO2-Fußabdruck", der den Käufern verrät, wie viel Klimagas bei der Produktion eines Nahrungsmittels in die Umwelt gepustet wurde.

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Von
  • Martin Kölling

Unbeschwert schlemmen geht in Japan nicht mehr. Auf immer mehr Lebensmitteln prangt ein "CO2-Fußabdruck", der den Käufern verrät, wie viel Klimagas bei der Produktion eines Nahrungsmittels in die Umwelt gepustet wurde.

Japan ist der Gourmet-Himmel auf Erden. Der "Guide Michelin" hat es bestätigt: Tokio hat mit elf Drei-Sterne-Restaurants bereits heute mehr kulinarische Wallfahrtsstätten als Paris. Dazu sammeln auch Kyoto und Osaka eifrig Auszeichnungen. Selbst in den Supermärkten isst das Auge mit: Die Frische des Gemüses ist einmalig, die Möhren sehen alle gleich aus. Und Tomaten wie Mandarinen werden preislich gestaffelt nach Süße mit garantiertem Mindestzuckergehalt verkauft.

Doch nun ist der Staat angetreten, den Inselbewohnern ihren unbeschwerten Genuss extrem selektierter Ware mit karbonschwarzem Klimagewissensbissen zu vermiesen: Immer mehr Lebensmittel werden mit einem Siegel beklebt, das die Kohlendioxidemissionen von der Aussaat oder der Fütterung bis zum Wegwerfen der Verpackung kennzeichnet.

"Kaabon futtopurinto" ("carbon footprint") nennen die Japaner das Öko-Siegel, das seit 2010 auf Produkte von der Damenunterhose bis hin zu Pilzen geklebt wird. Und es lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Es ist eine Waage. Die Basis bildet ein Rechteck, das selbst an ein schweres Gewicht erinnert. Darauf steht groß CO2. Darüber prangt eine Art Blase, die den Teller der Waage darstellen soll, mit den amtlich ermittelten Kohlendioxidemissionen des Produktes in Gramm, Kilogramm oder Tonnen. Als ich diese Woche nachschaute, waren knapp über 200 Produkte auf der Homepage des Projekts erfasst.

Dort kann ich die genauere Aufschlüsselung der Werte erforschen. Danach ist ein Kilo Vollkornreis für 1,83 Kilogramm Kohlendioxid verantwortlich, von denen rund 80 Prozent in der Produktion anfallen. 184 Gramm Wiener Würstchen treibt nicht nur mein Cholesterin, sondern auch das Kohlendioxid in der Atmosphäre um 805 Gramm in die Höhe. Und die Rose für den Esstisch schlägt sogar mit 825 Gramm zu Buche, davon 9 Prozent in der Materiallieferung, 87 Prozent in der Zucht, 4 Prozent im Transport, 0,01 Prozent im Gebrauch und 0,3 Prozent nach dem Wegwerfen. Da werde ich wohl das nächste Mal auf das bisschen Romantik verzichten.

Auch in anderen Lebensbereichen greift das Denken in CO2-Mengen um sich. Meine Zugverbindungssuchprogramm erklärt mir neuerdings nicht nur, in welchen Wagen ich einzusteigen habe, um den kürzesten Weg zum Umsteigen zu erhaschen. Es sagt mir auch, wie viel CO2 ich durch die Nutzung des öffentlichen Personennahverkehrs erzeuge. Demnach belaste ich das die Umwelt während der 27 minütigen, 230 Yen (2 Euro) teuren U-Bahnfahrt von meiner Station Toyosu ins per Luftlinie elf Kilometer entfernte Ikebukuro mit 258 Gramm Kohlendioxid.

Das hehre Ansinnen der Regierung ist, die Bürger zu bewussteren CO2-Produzenten zu erziehen. Denn die privaten Kohlendioxidemissionen sind in den vergangenen Jahrzehnten allen Umweltlitaneien zum Trotz in Japan in die Höhe geschnellt. Zur Verstärkung des Lerneffekts soll sogar eine zusätzliche Angabe für Einsparungen im Vergleich zu einem älteren Produkt eingeführt werden – und für kohlendioxidneutrale Produkte. Das sind in der Regel Erzeugnisse von Unternehmen, die sich Emissionsrechte gekauft haben und so ihre Belastung magisch wegrechnen. Aber ich habe da so meine Zweifel an der Sinnhaftigkeit des amtlichen Tuns.

Generell halte ich die Erfindung eines zusätzlichen ökologischen Entscheidungskriteriums beim Einkaufsbummel für lobenswert. Nur ist die Maßnahme fehlgeleitet, weil der japanische Staat vor dem größten Einsparpotenzial zurückschreckt wie der Teufel vor dem Weihwasser: der Einführung von rechtlich bindenden Mindestvorschriften für energieeffizientes Bauen. Denn – langjährige Blogleser mögen die Wiederholung verzeihen – der rasante Kohlendioxidanstieg im Privatsektor rührt zu einem Großteil daher, dass die Wohnungen so gut wie nicht isoliert sind und sich der Lebensstil verwestlich. Einfachverglasung und wunderbar wärmeleitende Alufensterrahmen sind noch immer weit verbreitet.

Das hat lange nicht gestört, weil die Japaner im Winter ihre Wohnungen kaum geheizt haben. In den meisten Häusern ist nur die Klobrille und der Raum unter dem kniehohen Esstisch, dem Kotatsu, dauerhaft beheizt. Um den Kotatsu sitzt die Familie, obenrum warm eingepackt, Beine unter den Tisch gestreckt, unter dem eine Heizschlange Wärme spendet. Eine Decke hält die Wärme unter dem Tisch. Das ist gemütlich wie ein Kachelofen, und fühlt sich auch dann noch mollig warm, wenn die Atemfahne vor dem Munde steht.

Aber heutzutage kauern sich immer weniger moderne Stadtbewohner um so einen Tisch. Stattdessen sind westliche Esstische in Mode gekommen und damit die Beheizung des gesamten Raums, oder besser gesagt, der Umwelt, denn wegen der miesen Isolierung verschwindet die Wärme rasch. Nur scheint die Regierung im Gegensatz zu ihren Gegenstücken in Europa nicht daran zu denken, ihren Bürgern den Verbau teurerer, aber energieeffizienterer Baumaterialien zu verordnen.

Lieber appelliert sie, lehrt sie. Nur nicht wehtun, ist die Devise in Japan, auch wenn es viel helfen könnte. Lieber gibt die Regierung durch die neue CO2-Siegel-Initiative ihren Bürgern und sich wieder einmal das wunderbare Gefühl, dass sich alle ganz doll ums Klimaschützen kümmern. Ein typisches Beispiel für ein typisch menschliches Verhalten: Beim Cent sparsam sein, aber den Euro verschleudern. (bsc)