Der Alptraum von Fukushima

Vieles spricht dafür, dass sich in den Reaktorblöcken 1, 2 und 3 im Kernkraftwerk Fukushima I eine teilweise Kernschmelze gebildet hat. Der Stand und Verlauf der Katastrophe schält sich aber nur langsam aus dem Informationspuzzle heraus. Der Artikel und die Chronologie der Ereignisse werden deshalb laufend aktualisiert und ergänzt. Letztes Update: 21.4.2011.

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Vieles spricht dafür, dass sich in den Reaktorblöcken 1, 2 und 3 im Kernkraftwerk Fukushima I zumindest eine teilweise Kernschmelze gebildet hat. Eine Katastrophe als fortwährendes Informationspuzzle:

Letztes Update dieses Artikels: 29.4.2011.

Das Versagen der Notkühlung

"Solange ... keine ausreichenden und auch belastbaren Sachinformationen zu den nuklearen Ereignissen vorliegen, ist es für eine qualifizierte Bewertung oder Schlussfolgerungen zu früh", heißt es in einer Presseerklärung des Deutschen Atomforums zu den Problemen im japanischen Kernkraftwerk Fukushima I. Doch auch wenn die Informationen der japanischen Atomaufsicht NISA und des Kraftwerksbetreibers TEPCO eher tröpfeln als fließen, ist das Bild inzwischen recht klar: Was in den Reaktorblöcken 1, 2 und 3 passiert ist, die 1971, 1974 bzw. 1976 in Betrieb genommen wurden, hätte nach Sicherheitsauslegung der Anlagen eigentlich nicht passieren dürfen.

Der vom japanischen Energieversorger Tōkyō Denryoku (TEPCO) betriebene Atomkomplex Fukushima I besteht aus insgesamt sechs Blöcken mit so genannten Siedewasserreaktoren. Die ersten beiden Siedewasserreaktoren sowie Block 6 wurden von General Electric gebaut, Block 3 und 5 von Toshiba und Block 4 von Hitachi. Die Reaktoren in den Blöcken 1 bis 5 sind vom Typ GE Mark 1, der Reaktor in Block 6 vom Typ GE Mark 2.

In Siedewasserreaktoren gibt es im Unterschied zu Druckwasserreaktoren nur einen Kühlkreislauf. Das Wasser, das von den Brennstäben erhitzt wird, geht im Reaktordruckbehälter direkt in die Dampfphase über und speist eine Turbine. Das Wasser dient zudem auch als so genannter Moderator für die Kettenreaktion: Es bremst die schnellen Neutronen, die bei der Kernspaltung frei werden und sorgt so dafür, dass die Kernreaktion nicht abreißt.

Als es am Freitag, 11. März, um 14:46 Ortszeit 130 Kilometer östlich der japanischen Hafenstadt Sendai zu einem unterseeischen Beben kommt, werden die an der Küste gelegenen Reaktorblöcke 1, 2 und 3 wie vorgesehen heruntergefahren (die anderen sind wegen Inspektion außer Betrieb). In Siedewasserreaktoren müssen die Steuerstäbe für die Notabschaltung von unten in den Reaktordruckbehälter gefahren werden. Das geschieht bei einer Notabschaltung in der Regel hydraulisch und scheint offenbar funktioniert zu haben. Eine mit Diesel betriebene Stromversorgung springt sofort an, um den Kühlkreislauf des Siedewasserreaktors aufrecht zu erhalten und die so genannte Nachzerfallswärme aus dem Reaktordruckbehälter abzuführen.

Die Nachzerfallswärme beträgt zwar Sekunden nach dem Abschalten des Reaktors nur noch sieben Prozent der thermischen Leistung im Reaktorbetrieb. Die Zahlen, die sich daraus ergeben, sind jedoch noch beachtlich. Denn der Reaktorblock 1 hat zwar "nur" eine elektrische Leistung von 480 Megawatt, die thermische Leistung liegt aber dreimal höher. Das bedeutet, dass die Reaktoren in den ersten Minuten bis Stunden nach dem Abschalten noch immer mit gut 100 bis einigen zehn Megawatt thermischer Leistung das Kühlwasser aufgeheizen. Da die Nachzerfallswärme exponentiell abklingt, dürfte sie im Laufe einiger Tage im einstelligen Megawatt-Bereich ankommen – die Kurve läuft allerdings sehr langsam aus, das heißt, dass diese Leistung noch über längere Zeit abgeführt werden muss.

Konstruktion des Siedewasserreaktors, wie er im AKW Fukushima 1 Daiichi betrieben wird.

(Bild: Nuclear Energy Institute)

55 Minuten nach der Schnellabschaltung versagen die Diesel-Aggregate in allen drei Blöcken. Wie der Tsunami sich auf sie ausgewirkt hat, ist noch immer unklar: Die erste Flutwelle erreichte die Küste um Fukushima I bereits sechs Minuten nach dem Beben um 14:52 Uhr (eine Übersicht über die Tsunami-Ankunftszeiten bietet der japanische Wetterdienst). Die Aggregate liefen also noch 49 Minuten weiter. Als sie ausfallen, versuchen die Kraftwerkstechniker mobile Notstromaggregate in Gang zu bringen, was aber nicht gelingt. Verschiedenen Meldungen zufolge sollen passende Kabel gefehlt haben, um sie anzuschließen.

An diesem Punkt ist die Lage zwar heikel, aber noch nicht aussichtslos. Der Kühlkreislauf ist so konstruiert, dass die Zirkulation des Wassers dampfgetrieben fortgesetzt wird. Die hierfür nötigen Pumpen und Ventile können einige Stunden mit Batteriestrom betrieben werden. Versiegt er, ohne dass Notstromaggregate angeschlossen werden können, kann die Nachzerfällswärme nicht mehr abgeführt werden: Temperatur und Druck im Reaktor beginnen zu steigen. In der Nacht von Freitag auf Samstag gibt TEPCO bekannt, dass der Druck im Reaktordruckbehälter von Block 1 bereits doppelt so hoch ist wie sonst. Die anderen Blöcke laufen offenbar normal.

Am frühen Samstagmorgen, um 5:30 Uhr, entschließt sich die Kraftwerksleitung, Druck über ein Notfallventil abzulassen, was in den folgenden Stunden wiederholt wird. Dabei treten unweigerlich radioaktive Stoffe aus Block 1 aus. Für das, was nun im Reaktordruckbehälter passiert, gibt es zwei Indizien: Am frühen Nachmittag meldet die japanische Nachrichtenagentur Kyodo News, das Cäsium 137 außerhalb des Reaktors nachgewiesen worden sei, und um 15:36 Uhr kommt es zu einer Explosion, die Dach und Teile der Wände des Reaktorhauses wegreißen.