Die Erfolgsbilanz einer Risikotechnologie

Befürworter der Kernenergie sprechen gerne von "Wahrscheinlichkeit" und "Beherrschbarkeit". Nach Fukushima klingen diese Begriffe etwas verwegen.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 12 Kommentare lesen
Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Niels Boeing

Man kann es drehen und wenden, wie man will: Was sich im japanischen AKW Fukushima I ereignet, ist eine Katastrophe ersten Ranges für die Kernenergie, die sich mit dem Hinweis auf das vorangegangene Beben der Stärke 9.0 nicht relativieren lässt. Nach dem bisherigen Wissensstand war es eine Verkettung unglücklicher Fehler, die zeitweilig zum kompletten Ausfall der Stromversorgung in den Reaktorblöcken und damit zur teilweisen Kernschmelze geführt hat.

Das Beben und der nachfolgende Tsunami mögen der Auslöser dieser Verkettung gewesen sein – aber nicht die Ursache. Ursache ist die Tatsache, dass auch ein mehrfach redundant ausgelegtes Sicherheitssystem versagen kann.

Die Wahrscheinlichkeit für einen GAU wird für AKWs gerne mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Ereignis in 100.000 Jahren beziffert. Weltweit sind derzeit 442 Reaktoren in Betrieb (rund 80 Anlagen, ohne Forschungsreaktoren, sind nach meiner Kenntnis im Laufe der Zeit wieder vom Netz gegangen).

Um die Gesamtwahrscheinlichkeit für einen GAU mit teilweiser Kernschmelze in einem dieser Reaktoren abzuschätzen, kann man annehmen, dass diese voneinander unabhängig sind, die Einzelwahrscheinlichkeiten sich also addieren. Das würde bedeuten, dass etwa einmal in 226 Jahren mit einem GAU zu rechnen ist.

Nun ist es bereits innerhalb von 32 Jahren zu zwei GAUs – Harrisburg, Fukushima – und einem Super-GAU – Tschernobyl – gekommen. Die Unfälle von Windscale (INES-Stufe 5) und Kyschtym (INES-Stufe 6) aus der Frühzeit der Kernenergie-Nutzung will ich dabei nicht mitrechnen.

Eine Wahrscheinlichkeit ist eben nur eine Wahrscheinlichkeit. Eine dürre Zahl, die über die Realität nicht viel aussagt. Die Realität sieht so aus, dass die Kernenergie sehr konkrete Unfälle und damit ein außerordentliches Risiko mit sich bringt, das andere Arten der Energieerzeugung nicht haben (hinzu kommt noch das Endlagerungsproblem).

Die Redeweise, das kerntechnische Risiko sei "beherrschbar", klingt angesichts der bisherigen Bilanz doch etwas verwegen. Sie wird auch nicht dadurch besser, dass die Kernenergie angeblich einen herausragenden Beitrag zum Klimaschutz leiste. In den Ohren der Betroffenen, allen voran der Arbeiter im AKW Fukushima I, muss sie geradezu pervers klingen.

Wenn wir schon bei Zahlen sind, noch ein Wort zu den Strahlungsdosen, die bislang aus Fukushima gemeldet wurden. Am Eingang des Kraftwerksgeländes wurde heute eine Dosisleistung von 10 Millisievert pro Stunde gemessen. Das ist knapp fünfmal so viel, wie Bundesbürger (wenn sie nicht etwa im Bayerischen Wald leben) pro Jahr aus der natürlichen Hintergrundstrahlung aufnehmen. Laut Bundesamt für Strahlenschutz kann eine kurzzeitige Strahlenbelastung von 500 Millisievert binnen Tagen zu gesundheitlichen Schäden führen.

Die so genannte LD-50, die "letale Dosis", bei der die Hälfte der Bestrahlten innerhalb von vier Wochen stirbt, liegt deutlich höher: bei 4,5 Sievert pro Tag. Bei der derzeitigen Strahlenbelastung von 10 Millisievert pro Stunde würde es 18,75 Tage dauern, bis eine Dosis von 4,5 Sievert erreicht würde. Fukushima I ist also – zum jetzigen Zeitpunkt – noch keine "Strahlenhölle" à la Tschernobyl.

Eine Katastrophe ist es aber allemal. Ich fürchte nur, es wird nicht die letzte ihrer Art in diesem Jahrhundert sein.

Nachtrag 11:30 h: An den Reaktoren soll die Strahlungsdosis laut Spiegel online inzwischen 1000 Millisievert (1 Sievert) pro Stunde betragen. Das wäre tatsächlich ein dramatischer Wert. Kyodo News meldet an Block 3 400 Millisievert pro Stunde.
(nbo)