"Wissenschaft kann die Politik nicht ersetzen"

DPG-Präsident Wolfgang Sandner über die Reaktorkatastrophe in Japan und die Folgen für die deutsche Energiepolitik.

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DPG-Präsident Wolfgang Sandner über die Reaktorkatastrophe in Japan und die Folgen für die deutsche Energiepolitik.

Der Experimentalphysiker Wolfgang Sandner ist seit April 2010 Präsident der Deutschen Physikalischen Gesellschaft (DPG). Die DPG ist mit mehr als 58.000 Mitgliedern die größte physikalische Fachgesellschaft weltweit. Im Hauptberuf ist Sandner Direktor am Max-Born-Institut für Nichtlineare Optik und Kurzzeitspektroskopie, Professor an der Technischen Universität Berlin. Im Fokus seiner Forschungstätigkeit steht das Zusammenspiel von Materie mit energiereichem Laserlicht.

Eine aktualisierte Chronologie des GAUs in Fukushima I gibt es hier.

Technology Review: Herr Professor Sandner, Sie werden laufend über die aktuelle Lage in Japan informiert. Müssen wir uns Ihrer Meinung nach Sorgen machen?

Wolfgang Sandner: Das ist eine gute Frage. Wenn es darum geht, ob wir uns hier in Deutschland um uns selber Sorgen machen müssen, muss ich sagen: Auf keinen Fall. Wir sollten uns eher besorgt zeigen über die Erdbebenopfer in Japan, statt uns um uns selbst Sorgen zu machen, weil dort Radioaktivität in die Luft gelassen wird, die zu uns gelangen könnte. Dieser Fall ist, zumindest bei der jetzigen Lage, nahezu ausgeschlossen.

TR: Wie sieht es mit der Sorge um mögliche Strahlenopfer in Japan aus?

Sandner: Die Strahlenschäden entstehen im Wesentlichen durch Aerosole oder kleine Partikel, die an die Luft abgegeben werden. Die werden im Moment nur in relativ geringen Mengen abgegeben. Und durch die vorherrschende Witterung werden sie größtenteils in Richtung Pazifik geblasen. Wenn alles so bleibt, wie es ist, muss man sich da also auch keine großen Sorgen machen. Die Frage ist, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass sich die Lage ändert.

Wenn sich das Wetter ändert und nicht mehr Radioaktivität als jetzt freigesetzt wird, gibt es auch noch keinen großen Grund zur Besorgnis. Die Frage ist aber, wie stabil sind die vier Reaktorblöcke, um die es jetzt geht: Die drei, die zum Zeitpunkt des Erdbebens in Betrieb waren und der vierte, der zwar außer Betrieb war, in dem sich aber jetzt ein Brand ereignet hat.

Momentan gibt es keine bekannten Temperatur- oder Druckanstiege. In drei Blöcken ist eine Druckentlastung durchgeführt worden. In allen drei Blöcken ist eine Meerwasser-Einspeisung in den Reaktor selber durchgeführt worden. Die Wasserstoffexplosionen, die sich zwischen dem 12. und 14. März ereignet haben, haben höchstens den Sicherheitsbehälter von Block 2 beschädigt. Man ist sich ziemlich sicher, dass in Block 1 und 3 die Sicherheitsbehälter und die inneren Druckbehälter noch intakt sind.

TR: Wenn wir davon ausgehen, dass das stimmt, dann scheint die Sache in den Blöcken 1-3 halbwegs glimpflich abgelaufen zu sein. Aber ein Brand im Abklingbecken ist doch eine sehr viel ernstere Situation, oder?

Sandner: Richtig. Das ist eine andere Qualität. Das ist nach oben sogar offen. Daher auch der Versuch, von oben mit dem Hubschrauber Wasser einzufüllen. Man versucht auf alle möglichen Weisen den absinkenden Wasserspiegel in dem Becken wieder aufzufüllen. Das Problem dabei ist, dass zumindest hier in Deutschland auch unter den Experten nicht bekannt ist, wo das Feuer genau aufgetreten ist. Und ob der Brand den sogenannten Pool so schwer beschädigt hat, dass der Wasserverlust größer ist, als die Möglichkeit nachzufüllen.

Wenn das so wäre, könnten die dort gelagerten Brennelemente selbst in Brand geraten. Dabei könnte eine relativ große Menge an relativ gefährlichem radioaktivem Material freigesetzt werden. Man hat da nicht das Schmelzen eines Kerns, wie in den anderen Reaktoren. Die Brennelemente sind nicht so dicht gepackt, dass eine Kettenreaktion aufrechterhalten werden kann – die sind da relativ locker gelagert.

TR: Sie haben gesagt, dass die deutschen Experten nicht wissen, wann und wo es gebrannt hat. Haben Sie den Eindruck, dass die Japaner Informationen zurückhalten? Oder ist die eher spärliche Aufklärung der Situation geschuldet?

Sandner: Einige Medien spekulieren ja, dass hier eine bewusste Katastrophen-Informationspolitik betrieben wird, bei der man Informationen nur bruchstückweise herausgibt. Das wird von unseren Experten nicht vermutet.

Es gibt zwei mögliche Erklärungen dafür, dass die Informationen etwas spärlicher fließen: Die eine ist, dass die Leute vor Ort momentan wichtigeres zu tun haben, als die Welt aufzuklären. Und zum zweiten mag man auch an ein Mentalitätsproblem denken – die Rolle des Gesichtsverlustes in der Kultur mag es den Japanern grundsätzlich sehr schwer machen, über Unglücke in ihrer eigenen Sphäre zu berichten. Aber unter Wissenschaftlern ist das sicherlich ein geringeres Problem. Die Informationen, die man hat, sind jedoch nachvollziehbar, in sich schlüssig und geben ein bewertbares Gesamtbild.

TR: Mehrere Arbeitsgruppen der DPG sind mittlerweile mit dem Unglück in Fukushima beschäftigt. Was genau machen die?

Sandner: Das sind genau genommen keine Arbeitsgruppen, die von der Deutschen Physikalischen Gesellschaft selbst ins Leben gerufen worden sind. Aber Forschungseinrichtungen, die auch von Mitgliedern der DPG geleitet werden, sind gerade dabei, sich zu einer Art interdisziplinärem Kompetenzverbund zusammenzuschließen. Da gibt es zum Beispiel Arbeitsgruppen, die sehr gute Simulationscodes für Störfälle haben – auch für baugleiche Anlagen in Europa.

Die werden versuchen, ihre Codes für die japanischen Anlagen anzupassen und zu analysieren, wie genau es zu dem Unfall kam. Und wenn sie das verstanden haben, können sie versuchen, vorherzusagen, welche Maßnahme welche Auswirkungen hat. Eine zweite Arbeitsgruppe wird einen Vergleich durchführen zwischen verschiedenen Typen von Siedewasserreaktoren. Dann werden atmosphärische Ausbreitungsmodelle untersucht werden – Wasserstoffexplosionen bis hin zu medizinischen Untersuchungen und Vorhersagen und so weiter. Eine sehr breite Sammlung von Kompetenzen in der deutschen Forschungslandschaft.

TR: Werden die Erkenntnisse, die dabei gewonnen werden, auch in die Sicherheitsüberprüfung alter Reaktoren einfließen, die von der Bundesregierung jetzt geplant ist?

Sandner: Das wird man nicht erzwingen können, aber davon wird man von Seiten der Forschung sicherlich ausgehen. Wie die Bundesregierung darauf reagieren wird, können wir aber weder bestimmen, noch vorhersagen.

TR: Wenn man sich den Verlauf der Katastrophe anschaut, dann scheint ein prinzipielles Problem zu sein, dass die Zirkonium-Umhüllung der Brennstäbe mit dem Wasser reagieren kann. Das Problem ist doch grundsätzlich bekannt, oder?

Sandner: Ja, das ist völlig richtig.

TR: Warum verwendet man dann immer noch solche Materialien?

Sandner: Es ist völlig richtig, die Probleme sind im Grunde bekannt. Auch der mögliche Schaden. Die Risikobewertung bestimmt sich eben daraus, dass man die Eintrittswahrscheinlichkeit mit der zu erwartenden Schadenshöhe multipliziert.

Wenn man der Meinung ist – so wie es die Japaner offenbar waren – dass die Kühlwasserversorgung und die dafür notwendige Infrastruktur eines der letzten Dinge ist, die kaputt gehen, kann ich diesen Reaktortyp verwenden. Es war ja auch so, dass die Reaktoren sich ordnungsgemäß abgeschaltet haben – auch wenn sie nicht für ein Erdbeben dieser Größe ausgelegt waren. Wenn da nicht die Tsunami-Welle gewesen wäre, die die gesamte Infrastruktur für die Notstromversorgung weggewaschen hat. Hier hat man ein Risiko offenbar übersehen, weil man dieses Ereignis für so unwahrscheinlich gehalten hat.

Alle diese Technologien – das ist nicht auf Kernkraft beschränkt – haben ihre Risiken. Man kann sagen: Eine vollkommen fehlertolerante Technologie gibt es nicht.

TR: Der Arbeitskreis Energie der DPG hat noch im vergangenen Jahr dafür plädiert, den Anteil der Kernenergie in Deutschland nicht zu reduzieren. Hat sich die Bewertung aufgrund der aktuellen Ereignisse für Sie verändert? Und wird es jetzt in der DPG eine neue Diskussion geben?

Sandner: Das sind zwei Fragen. Erstmal muss man sagen, der AK Energie ist nur eine von vielen Stimmen in der DPG. Es gibt auch andere Stimmen. Wir hatten aber auch eine Energiestudie von der DPG aus herausgegeben. Und deren Ergebnis war: Unter dem Gesichtspunkt der CO2-Vermeidung hat die DPG festgestellt, dass man die CO2-Ziele nicht erreichen kann, wenn man sofort abschalten würde. Das gilt nach wie vor.

Die Risiko-Abschätzung hat sich auch nicht geändert. Natürlich muss ich, wie in der Versicherungsmathematik, bei Schadenseintritten überprüfen, ob die Voraussetzungen noch stimmen oder die Empirie jetzt etwas anderes sagt. Aber sonst ändert sich die Abschätzung nicht. Man stellt nur fest: Auch Ereignisse, die nur eine geringe Wahrscheinlichkeit haben, können eben hin und wieder eintreten. Und dann gibt es eine gesellschaftliche Diskussion darüber, ob wir das wollen. Die Gesellschaft verdrängt das gerne. Aber für die Physik ändert sich wenig.

TR: Es handelt sich also im Kern um eine politische Frage, und nicht um eine technische?

Sandner: Das ist absolut richtig. Die wissenschaftlich, technische Aufgabe ist es, die Eintrittswahrscheinlichkeit von Fehlern so gering wie möglich zu machen. Auch die Schadenshöhe kann man versuchen, zu minimieren. Aber das Produkt aus Schaden und Eintrittswahrscheinlichkeit wird niemals Null sein. Danach ist Schluss für Wissenschaft und Technik. Danach ist es eine Frage der politischen und gesellschaftlichen Risikobewertung. Das können Sie allein daran sehen, dass die Risiken der selben Kernenergie völlig anders eingeschätzt werden, wenn sie die Landesgrenze nach Frankreich überqueren. Das ist weder positiv noch negativ zu werten, sondern liegt jenseits der wissenschaftlichen Diskussionsebene.

Wenn die Sicherheitsdiskussion also jetzt wieder auflebt, stehen wir als Physiker erstaunt davor, dass die Politiker meinten, bevor der Unfall stattgefunden hat, musste man nicht drüber reden, und jetzt muss man. Das Sicherheitsrisiko unserer Atomkraftwerke ist nach dem Unfall in Japan genau das selbe, wie vorher.

TR: Es gibt aber auch Wissenschaftler, die sich wünschen in solchen Fragen mehr Gehör zu finden.

Sandner: Das ist sicherlich richtig, wenn wissenschaftlich-technische Fakten verzerrt dargestellt werden aufgrund von Gefühlen oder politischen Überlegungen. Die Wissenschaftler können die Politik nicht ersetzen. Aber die Wissenschaft muss für diese Diskussion die Fakten und die Methodik bereitstellen. (wst)