Die unsichtbare Mauer

Der Atomunfall hat furchtbare Folgen, aber gestorben ist daran noch keiner. Die – bisher - größere menschliche Katastrophe spielt sich im Tsunami-Gebiet ab. Hier die ersten Lehren nach dem Beben.

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Von
  • Martin Kölling

Der Atomunfall ist schrecklich, aber gestorben ist daran noch keiner. Die eigentliche menschliche Katastrophe spielt sich im Tsunami-Gebiet ab. Hier die ersten Lehren nach dem Beben.

Vorweg bemerkt: Ich schreibe dieses Mal nicht über das Atomunglück. Das Thema wird in Deutschlands Medien zur Genüge behandelt. Ein weiteres Blog-Stück dazu aus meiner Tastatur verspricht zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht mehr Erkenntnisgewinn. Wohl aber habe ich in den vergangenen Tagen von japanischen Experten einige Eindrücke und Lehren aus dem Beben- und Tsunami-Gebiet gesammelt, die vielleicht noch nicht allgemein bekannt geworden sind.

Eine Erkenntnis ist, dass die Schäden durch das Erdbeben nicht so groß waren, wie es zunächst schien. Die großen Verwüstungen hat der Tsunami angerichtet. Mein Freund Shuji Yoshida, Geologie-Professor an der Universtität Chiba bei Tokio, spricht nach einer Ortserkundung daher von einer "unsichtbaren Mauer", die sich durch das Krisengebiet zieht. Auf der einen Seite der Mauer gibt es zwar Schäden, aber die meisten Häuser stehen noch. Dann plötzlich beginnt die Zone der Verwüstung.

Wie eine Abraumhalde habe es ausgesehen, erzählt mein Freund. Die Szenen und die Geschichten der Überlebenden seien unbeschreiblich. "Meine Tränen sind jetzt versiegt." Noch ist die Zahl der Opfer nicht bekannt, aber der Tsunami könnte über 20.000 Menschen getötet haben, weil er viel höher gewesen ist, als die Experten für wahrscheinlich gehalten haben. Offiziell wird die Höhe der Wasserwand mit rund 15 Metern angegeben, sagt Yoshida. "Aber an einigen Stellen hat sich die Welle etwa 30 bis 40 Meter die Hänge hinauf geschoben."

Die Wucht des Tsunami war gewaltig. Mühelos überwand er die bis zu zehn Meter hohen Schutzwälle und schob Schiffe, Autos und Häuser ins Land. In einer der Ortschaften, die Yoshida besucht hatte, sind Zugwagons vom Bahnhof im Tal auf den Hügel verfrachtet worden. Und auf dem Weg zurück hat der Tsunami dann einen Teil seiner Fracht ins Meer hinaus gerissen.

Der Unterschied zwischen einem Erdbeben und einem Tsunami aus der Sicht eines Helfers schilderte mir Yasushi Nakajima, Doktor am Hiroo Hospital in Tokio und einer der Top-Krisenhelfer Japans. Er war der erste Arzt in der Kleinstadt Kesennuma, einem der am härtesten von der Naturkatastrophe betroffenen Orte. Nach einem Beben gibt es viele Verletzte mit einer großen Bandbreite von Verletzungen. "Aber im Tsunami von Kesennuma waren die Menschen entweder tot oder unverletzt. Dazwischen gab es fast nichts", erzählt Nakajima. Der Grund ist simpel: Wer einmal vom Wasser erfasst wurde, ist mit großer Wahrscheinlichkeit tot. Denn er wird vom mitgerissenen Geröll und den Trümmern in Sekundenbruchteilen zermahlen.

Yoshiteru Murosaki, Spezialist für Desasterbewältigung der Kwansei-Gakuin-Universität in Osaka, erinnert sich an fürchterliche Bilder. Weil der Tsunami und das Erdbeben ein Gebiet auf 400 Kilometer Länge verwüstet haben, ist über mehrere Wochen die Versorgung zusammengebrochen. Obwohl über 100.000 japanische und amerikanische Soldaten eine beispiellose Hilfsmaßnahme gestartet hatten, mussten viele Menschen in den Notunterkünften tagelang hungern. Medikamente fehlten auch. Viele Evakuierte seien daher erkrankt, nicht wenige gestorben, so der Professor.

Doch Murosaki fokussiert sich auf den Wiederaufbau. Seine Lehren sind einfach. So müsse das Land zusammenstehen und den Wiederaufbau der Ortschaften finanzieren. "Ich habe große Angst, dass viele Orte zu Geisterstädten werden", sagt Murosaki. Das bereits weltweit einmalige Tsunami-Warnsystem müsse außerdem weiter verbessert werden. Denn viele Menschen konnten sich nicht schnell genug in Sicherheit bringen.

Vor Mega-Tsunamis wie diesem kann man sich aber nicht perfekt durch bauliche Maßnahmen schützen, zeigt das Beispiel der betroffenen Region Tohoku. Die Region hatte weltweit bereits den besten Tsunami-Schutz. Statt noch höhere Mauern um die Stadt zu ziehen, empfiehlt er den Bau von "Evakuierungstürmen" in den Ortschaften, in die die Menschen flüchten können, anstatt zu den fernen Hügeln zu laufen. Darunter versteht er mehr als fünfstöckige Häuser, die so robust gebaut sind, dass sie dem Wasserdruck standhalten. Seine Aufforderung: Der Bau sollte sofort beginnen – besonders in der Region Tokai im Südwesten Tokios. Denn dort vor der Küste Shizuokas, einem der Industriezentren des Landes, wird schon länger ein Beben der Stärke 8 (oder sogar höher) auf der Richterskala erwartet. Es könnte die bisher teuerste Naturkatastrophe der Menschheitsgeschichte wirtschaftlich noch in den Schatten stellen. (bsc)