Abwarten mit Vista

Kurz nach Markteinführung im Geschäftskundensegment hält sich der Enthusiasmus der Branche für Windows Vista noch in Grenzen. Einzige Ausnahme: Microsoft, allen voran CEO Steve Ballmer.

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"Zurückhaltend" ist nicht das richtige Wort, um Steve Ballmer zu beschreiben. Der Microsoft-Boss tanzt gerne in der Öffentlichkeit herum und ist durch nichts so leicht zu beeindrucken. Vor dem offiziellen Start des neuen Betriebssystems Windows Vista und der Office-Suite 2007 spricht der gewichtige Manager vom "größten Launch in der Unternehmensgeschichte". Typisch Ballmer eben. Der Stellvertreter Gates auf Erden rührt lautstark die Werbetrommel für das neue Vista, das er gestern zuerst auf die Geschäftswelt losgelassen hat. Vollmundig verspricht Microsoft "A New Day for Business", einen neuen Tag für Unternehmen. Das Vista nicht gleich ein neues Zeitalter einläuten soll, mag Anzeichen erster Nervosität im erfolgsverwöhnten Redmond sein.
Damit der größte Launch nicht in den größten Flop der Firmengeschichte mündet, tritt Microsoft eine beispiellose Marketingaktion los. "Dies ist die größte Kampagne, die wir je durchgeführt haben". Ballmer ist in seinem Element und spart nicht mit Superlativen. Einige hundert Millionen US-Dollar sollen dabei helfen, dass Vista auch da landet, wo es möglichst schnell hin soll: auf den Computern in Unternehmen und Privathaushalten. Und der nächste Nachfolger soll nicht wieder fünf Jahre im Labor brüten, verspricht Ballmer. Auch an den Ärger mit der EU-Kommission mag er jetzt nicht mehr denken. Denn am Erfolg des neuen Betriebssystems hängt bei Microsoft eine Menge, nicht nur ein Drittel des Gesamtumsatzes.
Redmond gibt sich Mühe durch vorgelebten Enthusiasmus, doch bisher mag der Funke noch nicht recht überspringen. Offenbar ist die Geschäftswelt noch nicht bereit für den neuen Tag. Für Microsoft ist es ein großes Ding, alle anderen warten lieber erst mal ab. Branchenkenner bezweifeln, dass die Mehrheit der Unternehmen ihre IT-Infrastruktur kurzfristig auf Vista migrieren werden. Nach Jahren der Service Packs und Patches sei XP doch ganz brauchbar und den Kunden nicht ganz klar, wofür sie Vista so dringend brauchen. Revolutionär Neues hat Vista nicht zu bieten. Einen effektiven Virenschutz, funktionierende Spamfilter und transparente Fenstereffekte gibt es auch bei anderen Betriebssystemen.
Trotz allen Schulterzuckens und der ausgebliebenen Fanfaren sind sich die Experten einig, dass sich Vista durchsetzen wird. Doch wie lange Ballmer darauf warten muss, darüber streiten Marktforscher und Analysten noch. Mehr Zeit als Windows XP soll Vista brauchen, ist die vorherrschende Meinung. Nach Einschätzung von Analysten der Credit Suisse werden in den kommenden Jahren nur ein knappes Drittel aller Computernutzer auf Vista umsteigen. Besonders die gestern noch mit einem exklusiven Launch umworbene Geschäftswelt gibt sich zögerlich. "Bereits jetzt ist das Interesse von Unternehmen an Windows Vista sehr hoch", hält Microsoft-Managerin Isabell Scheuber dagegen.
Doch wird die Branche nach Ansicht des vielstimmigen Experten-Chors, der die Vista-Generalprobe begleitet, bis zu zwei Jahre (oder sogar länger) mit der Umstellung warten. Die Migration in einem großen Unternehmen könne leicht 18 Monate dauern, mit einem Blitzfeldzug durch die Geschäftsetagen kann Ballmer also nicht rechnen. Vorsichtig wie Administratoren in verantwortungsreichen Positionen gerne sind, warten sie lieber, bis die klassischen Impfstoffe für den frisch operierten Patienten zu haben sind. Und sie warten noch ein bisschen länger, ob das neue Serum auch wirkt. Außer von McAfee sind bisher noch keine Mittel für Vista erhältlich.
So richtig freuen können sich über Vista nur die Hardwarehersteller. Sie erwarten nach dem verpassten Weihnachtsgeschäft im Frühjahr einen kräftigen Schub vom neuen Windows. Viele PC-Besitzer, die in diesem Jahr noch Kaufzurückhaltung übten, könnten den Windows-Generationswechsel hardwareseitig mitvollziehen, hoffen PC-Hersteller und Händler auf steigende Absatzzahlen. Laut Prophezeiung der Marktforscher von IDG wird sich der Vista-Rollout damit im kommenden Jahr deutlich beschleunigen. Sie erwarten, dass ab 30. Januar 2007 rund 90 Prozent der verkauften Computer mit der Endkundenversion von Vista über die Ladentheke gehen. Damit erreicht Vista auch die Nutzerschicht, die unter Missachtung gängiger Vorsichtsmaßnahmen alles installiert, was ihr auf den Schirm kommt. Ab dann wird sich nicht nur Vista wie ein Virus verbreiten.
  • Ausführliche Berichte zu Windows Vista brachte c't in Ausgabe 22/06: