Verfolgungswahn als Werbekonzept

Neuartige "Retargeting"-Algorithmen können Gelegenheitssurfer mittlerweile von echten potenziellen Kunden unterscheiden. Denen wird dann gleich passende Reklame serviert.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 36 Kommentare lesen
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Katherine Bourzac

Neuartige "Retargeting"-Algorithmen können Gelegenheitssurfer mittlerweile von echten potenziellen Kunden unterscheiden. Denen wird dann gleich passende Reklame serviert.

Wenn 100 Besucher auf eine E-Commerce-Website kommen, kaufen vielleicht zwei davon etwas – die anderen 98 verlassen die Seite unverrichteter Dinge. Mit genügend Erinnerungsmaßnahmen, sprich: passender Online-Werbung, könnten einige der Uninteressierten später vielleicht doch zu Käufern werden. Das glauben zumindest Internet-Marketingfachleute. Das Problem: Wie bekommt man heraus, wen genau man ansprechen muss? Eine mögliche Lösung ist zielgerichtete Werbung, genauer: das sogenannte Retargeting. Dabei werden interessante Kundenkandidaten sozusagen durch das Web "verfolgt".

Retargeting lässt sich leicht erkennen: Wenn man beispielsweise eine Anzeige für ein Produkt auf einer anderen Website sieht, dass man sich vorher bereits bei einem Online-Händler angesehen hatte, gehört man schon dazu. Firmen wie TellApart sind Spezialisten dieser Form der Online-Werbung. Das 2009 von Mark Ayzenshtat und Josh McFarland gegründete Start-up ist eigentlich aus Google heraus entstanden: Beide Jungunternehmer arbeiteten zuvor an dortigen Werbeplattformen wie "AdWords" mit.

TellApart verwendet Nutzerdaten von E-Commerce-Angeboten, um vorherzusagen, ob jemand, der eine Website gerade verlassen hat, vielleicht später noch kaufen möchte – oder aber nicht. Menschen, die für ein Retargeting empfänglich sind, kann dann entsprechende Reklame präsentiert werden. TellApart nutzt dabei die Echtzeit-Auktionen, mit denen viele Online-Anzeigenplätze mittlerweile vermarktet werden.

"Wir werden nur bezahlt, wenn es auch zu einem Kauf kommt", sagt Ayzenshtat. Entsprechend sicher sei man sich, dass das Prinzip funktioniert. Rund 7,5 Prozent der Besucher klicken demnach auf die personalisierten Anzeigen – eine deutlich höhere Click-Through-Rate als bei generischen Anzeigen. Immerhin 4,5 Prozent derjenigen, die eine solche Reklame anklicken, kaufen dann auch.

Ayzenshtat zufolge arbeiten die Algorithmen von TellApart im Grunde wie ein Verkäufer im Laden: "Wenn man dort eintritt, entwickelt dieser ja auch ein Profil des Kunden basierend darauf, welche Kleidung er trägt, mit wem er in den Laden kommt und ob er bereits Tüten anderer Shops mit sich führt." In der E-Commerce-Welt seien solche Signale allerdings nicht ganz so einfach zu identifizieren.

Um das zu erreichen, durchforsten die TellApart-Server gigantische Mengen an Daten, die die Online-Händler bereitstellen, die den Retargeting-Dienst nutzen. Wenn jemand eine Website besucht, lässt sich beispielsweise feststellen, wo eine Person zuvor gewesen ist: Wurde ein Banner angeklickt oder kam sie aus einem Blog? Landete der Besucher beim E-Shop für Babyausstattung, nachdem er nach einem bestimmten Kinderbett gesucht hatte, das er sich auch auf anderen Angeboten ansah?

Hinzu kommen Verhaltensdaten direkt vom Server des E-Commerce-Anbieters. Was geschah nach der Ankunft des Nutzers? Wurde nur eine Seite betrachtet oder verglichen? Ebenfalls einberechnet werden die Produkte, die ein Kunde auf der Seite sonst noch ansah, ob er sich für eine bestimmte Kategorie interessierte und wie populär diese Produkte bei anderen Nutzern waren.

Hinzu kommen praktische Fragen wie die Uhrzeit und die Herkunft der IP-Adresse – so lässt sich in etwa feststellen, ob der Besucher von zu Hause oder der Arbeitsstelle aus surft. Anschließend wird dem Nutzer ein Datenkrümel (Cookie) im Browser geschrieben, der ihn auch über mehrere Websites hinweg identifizierbar macht.

Zu TellAparts Kunden gehören die größten Händler im Web, etwa CSN Stores, ein Unternehmen, das in den USA mehr als 200 Websites wie Luggage.com oder Cookware.com betreibt. 380 Millionen Dollar wurden so letztes Jahr umgesetzt; momentan arbeitet die Firma an ihrer internationalen Expansion. Jeff Steeves, Direktor für Kundenakquise, sieht in Diensten wie dem von TellApart durchaus nützliche Ansätze.

Seitdem CSN Stores im Mai letzten Jahres dort mitmacht, sei die sogenannte Conversion Rate, also die Anzahl der Besucher der Websites, die auch zu Kunden werden, deutlich gestiegen. "Den Löwenanteil der Arbeit macht TellApart dabei für uns. Dort wird gemessen, wie die Nutzer mit der Seite umgehen, und bestimmt, wer nach einer gezielten Anzeige vielleicht doch noch zum Kunden wird." Werbemuffel sollen so möglichst nicht mit unpassender Reklame genervt werden, die nur Kosten verursacht. Smartes "Remarketing" nennen Ayzenshtat und sein Team das.

All diese Daten geben TellApart ein genaues Bild der Besucher einer Website. Persönliche Informationen erhält die Firma dabei nicht, weder Accountdaten noch Nutzernamen. "Wir interessieren uns dafür auch nicht."

Der Chef eines TellApart-Konkurrenzunternehmens, der nicht namentlich erwähnt werden wollte, meint allerdings, dass die Branche zumindest in den USA derzeit eine reine Selbstregulierung vornimmt, bei der große Player wie Google die Regeln bestimmen. Die "Remarketing"- und "Retargeting"-Spezialisten hoffen genauso wie ihre Kollegen aus der "Targeted Advertising"-Ecke, bei der es um noch genauere zielgerichtete Werbung geht, dass die zuständige US-Handelsaufsicht FTC möglichst nicht eingreift. Momentan laufen allerdings Verhandlungen.

Immerhin sorgt die Selbstregulierung dafür, dass TellApart und andere Anbieter eine "Opt-Out"-Möglichkeit bieten. Ein kleines "X" in der Ecke jeder Anzeige soll es erlauben, sich aus dem "werblichen Verfolgungswahn" zu befreien. Allerdings, so Ayzenshtat, klicke da fast niemand drauf.

Die Nutzer können sich bereits darauf einstellen, dass das Retargeting künftig noch präziser wird. Ayzenshtat und sein Team arbeiten derzeit daran, bis zu 30 Prozent mehr Verkäufe zu erzielen, indem sie ermitteln, welcher Kunde über einen Discount-Coupon angelockt werden könnte und welcher so etwas gar nicht erst braucht. Tatsächlich gibt es insbesondere in den USA mittlerweile Nutzer, die sich gezielt auf die Suche nach Gutscheincodes machen, um den Einkaufspreis zu drücken. TellApart könnte nun ermitteln, wann überhaupt die Möglichkeit gegeben werden sollte, einen solchen einzugeben. (bsc)