Lenken durch Denken

Ein Auto per iPhone, iPad oder gar Gedanken zu steuern - das macht Technologie möglich, die für autonome Autos entwickelt wurde. Sie beweist: Künstliche Intelligenz wird in Zukunft den Straßenverkehr erobern - allerdings nur vom Beifahrersitz aus.

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Von
  • Chris Löwer
Inhaltsverzeichnis

Ein Auto per iPhone, iPad oder gar Gedanken zu steuern – das macht Technologie möglich, die für autonome Autos entwickelt wurde. Sie beweist: Künstliche Intelligenz wird in Zukunft den Straßenverkehr erobern – allerdings nur vom Beifahrersitz aus.

Der silberfarbene VW Passat scheint von selbst zu fahren. Henrik Matzke sitzt zwar auf dem Fahrersitz, doch seine Hände ruhen nicht am Lenkrad, sondern in seinem Schoß. In seinem Gesicht jedoch deuten zusammengeschobene Augenbrauen und aufeinandergepresste Lippen auf Denkarbeit hin – und die hat es in sich: Matzke steuert den Wagen mit der Kraft seiner Gedanken. Ohne einen Finger zu krümmen, zirkelt der wissenschaftliche Assistent des Innovationslabors AutoNOMOS an der Freien Universität (FU) Berlin im Rahmen des Projekts "Brain Driver" den Passat präzise um Kurven, lässt ihn, wie er es sich gerade denkt, beschleunigen und bremsen, ohne seine Füße auch nur einen Millimeter von der Fußmatte zu heben.

Matzke gehört zur Forschergruppe um Raúl Rojas, der das Fach Künstliche Intelligenz an der FU Berlin lehrt. Zuvor haben die Wissenschaftler ihr autonomes Auto schon per iPhone, iPad und Augenschlag gesteuert, nun sind Gehirnwellen an der Reihe. Akademische Spielerei? Rojas verneint. "Unser Fernziel ist es, dass Autos komplett autonom fahren", erklärt der Professor. Auf dem Weg dahin lote man das technisch Machbare aus.

Auch wenn das neue Projekt der Berliner wie pure Science- Fiction anmutet, zeigt es, welches Potenzial das Gebiet der Wissenschaftler besitzt. Doch ohne menschliche Intuition bleibt künstliche Intelligenz am Steuer riskant. Deshalb kann auch der Fahrer durch ein Tippen auf das Pedal oder den Griff zum Lenkrad die Fahrautomatik unterbrechen, um selbst einzugreifen. Auch wenn mit der Gedankensteuerung ein spektakulärer Meilenstein erreicht ist – der Weg zum Auto, das sich selbst fährt, ist noch lang. KI-Forscher Rojas ist jedenfalls davon überzeugt, dass sich die Vision des autonomen Fahrens nur "auf dem Schleichweg" über immer bessere Fahrerassistenzsysteme (FAS) realisieren lässt.

Die Gedankenfahrt von "Brain Driver" Matzke ist das Ergebnis eines harten Trainings am Computer: Mit einer Sensorkappe auf dem Kopf, die seine Hirnströme aufzeichnete und daraus ein sogenanntes Elektroenzephalogramm (EEG) erstellte, studierte er die Kommandos "links", "rechts", "beschleunigen" und "bremsen" ein. Gemäß den dabei erzeugten bioelektrischen Wellenmustern bewegte sich auf dem Monitor des Rechners ein Würfel in die entsprechende Richtung. Erst nachdem der Computer die Wellenmuster zuverlässig als eindeutigen Befehl interpretieren und umsetzen konnte, durfte Matzke hinter dem Steuer Platz nehmen. Die Herausforderung bestand nun darin, noch vorausschauender zu fahren als in einem herkömmlichen Pkw: Um beispielsweise abzubiegen, musste Matzke fünf bis sechs Sekunden vorher daran denken. So lange dauert es, bis die angedachten Befehle von seiner Sensorkappe über den Computer in Aktionen umgesetzt werden.

Das vollständige autonome Fahren ist für die Berliner Forscher eigentlich die wesentlich leichtere Übung, denn das haben sie und ihr Passat längst gelernt – im Prinzip. Vom Dach bis zum Bodenblech ist das Fahrzeug mit Sensoren, Lasern, Radar und einer auf 20 Zentimeter genauen Version des globalen Satelliten-Navigationssystems GPS ausgestattet. Videokame-ras erfassen Fahrbahnmarkierungen und Ampeln, rotierende 360-Grad-Laserscanner, sogenannte Light-Detection-and-Ranging-Systeme (Lidar), erkennen Autos auf bis zu 100 Meter Entfernung, und Radargeräte vorn und hinten schätzen die Geschwindigkeit und Entfernung von Fahrzeugen auf der Straße ab. Die Laser liefern auch Informationen über Größe und Gestalt anderer Verkehrsteilnehmer.

Doch darin, auf die Datenflut aus dem Sensorenarsenal adäquat zu reagieren, kann es der Rechner mit dem Gehirn noch längst nicht aufnehmen. "Nicht die Daten zu gewinnen ist eine Kunst, sondern sie schnell zu verarbeiten und die richtigen Schlüsse daraus zu ziehen", erklärt Rojas. Trotz vieler Testfahrten seit 2007 – "unfallfrei", wie der aus Mexiko kommende Professor betont – muss Rojas eingestehen: "Alles, was für den Fahrer einfach erscheint, ist für einen Rechner besonders schwierig." Etwa die Risikoanalyse, ob der leichte Schlenker des Vordermanns auf ein abruptes Abbiegen hindeutet, ob ein Fußgänger achtlos auf die Fahrbahn läuft oder Kinder am Straßenrand eine Gefahr darstellen. "Vor allem Passanten sind das Problem", sagt der Forscher. Da vor ihrer verkehrsregelwidrigen Spontaneität künstliche Intelligenz immer noch kapitulieren müsse, seien autonome Stadtfahrten zwar technisch möglich, aber nicht beherrschbar.