Vorratsdatenspeicherung: Foulspiel mit Anlauf

Wer so tut, als sei es eine große Überraschung, dass sich der baden-Württembergische Innenminister auf der Bundesebene mit einer Blutgrätsche gegen den größeren grünen Koalitionspartner erstmals in Szene setzt, der hat die vergangenen Jahre verschlafen.

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Von
  • Falk Lüke

Was für ein Geheul! Der baden-württembergische Innenminister Reinhold Gall hat sich nun öffentlich für eine sechsmonatige Vorratsdatenspeicherung eingesetzt, zugriffsbeschränkt für schwerste Straftatbestände. Und die Internetnutzer? Man schreit und stampft auf den Boden und sagt: Das darf doch nicht wahr sein!

Dabei hat Gall genau das vertreten, was einige Innenpolitiker in der SPD denken: Es gibt eine in Kraft befindliche EU-Richtlinie, es gibt ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das unter strengen Auflagen eine Grundgesetzkonformität zumindest möglich erscheinen lässt. Und es gibt einen Koalitionsvertrag mit den Grünen, der ihm genau diese Position ermöglicht. Dort steht: "Bei der Vorratsdatenspeicherung setzen wir uns dafür ein, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts präzise einzuhalten."

Dass diese Formulierung zum Himmel stinkt, ist den aufmerksamen netzpolitischen Beobachtern schon längst klar gewesen. Die ersten Diskussionen dazu fanden bereits Ende April im Internet statt, als der Vertrag gerade fertiggestellt war. Und es ist auch kein Geheimnis, dass die Vorratsdatenspeicherung in ihrer grundgesetzwidrigen Form im Jahr 2007 von SPD und CDU/CSU gemeinsam durch den Bundestag gebracht wurde – bei den Unionsparteien stimmten ganze drei Abgeordnete dagegen, bei der SPD ganze sieben.

Wer jetzt so tut, als sei es eine große Überraschung, dass sich der baden-Württembergische Innenminister auf der Bundesebene mit einer Blutgrätsche gegen den größeren grünen Koalitionspartner erstmals in Szene setzt, der hat die vergangenen Jahre verschlafen: Die Netzpolitiker in der SPD sind nach wie vor eher Orchideengewächse denn innerparteilich mehrheitsfähig. Es ist ihnen bislang nicht gelungen, in ihrer Partei die auch symbolische Bedeutung der Themen den mitwirkenden klarzumachen. So wie die SPD-Führungsriege einst per Geschäftsordnungsmacht die Zensursuladebatte von einem Bundesparteitag fernhielt, so spielt Gall erstaunlich gekonnt für einen Ministerneuling auf der politischen Klaviatur: Beim Koalitionsvertrag hat der Grüne Koalitionspartner schlicht gepennt.

Wenn diese nicht noch den Notausgang nehmen und in die noch nicht in Kraft befindliche Geschäftsordnung der Landesregierung die Zuständigkeit für die Vorratsdatenspeicherung dem Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann direkt zuschreiben, dann gilt das Ressortprinzip und der Innenminister ist am Drücker – oder alternativ das ebenfalls SPD-geführte Justizministerium. Alles andere wäre nah an einem Bruch des Koalitionsvertrages. Dass die Grünen im Stuttgarter Landtag ihre frischgewonnene Macht an einem Nerdnischenthema scheitern lassen, das bis heute ein Großteil der Bundesbevölkerung nicht versteht, glauben nur politische Phantasten. Die ganze Situation um die Vorratsdatenspeicherung bleibt also verfahren, auch deshalb, weil das Bundesverfassungsgericht zwar mit lauter Stimme, aber halbem Herzen die bisherige Regelung kippte.

Was bleibt, ist die abstrakte Hoffnung auf die europäische Gerichtsbarkeit. Denn ob die EU-Vorratsdatenspeicherungsrichtlinie selbst mit der Europäischen Grundrechtecharta konform ist, wie sie seit 2009 mit dem Vertrag von Lissabon – dem Restbestand der gescheiterten europäischen Verfassung – verbindlich in den meisten EU-Mitgliedsländern gilt, darüber hat noch kein Gericht geurteilt. Und tatsächlich könnte dieses noch kaum erprobte Abwehrrechtskonvolut den Sicherheitsphantasien mancher ländlicher Innenminister ein nachhaltiges Ende bereiten. Nur wann dies der Fall sein könnte, darüber zu spekulieren verbietet sich derzeit. Reinhard Gall hat diesen Zeitpunkt nun vielleicht etwas näher rücken lassen. Und das sicherlich ohne dies zu wollen. (jk)