"Internet-Revolutionäre" sagen Lukaschenko den Kampf an

Eine neue Bewegung bringt landesweit deutlich mehr Menschen auf die Straße als die zersplitterte Opposition.

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Von
  • Ulf Mauder
  • Gennadi Kesner
  • dpa

Ihr erklärtes Ziel ist eine Revolution im autoritär regierten Weißrussland – über soziale Netzwerke wie Twitter, Facebook oder dem russischen Pendant Vkontakte. Über das Internet rufen sie die Unzufriedenen in dem vor dem Staatsbankrott stehenden Land zu friedlichen Protesten auf. Damit wollen die "Internet-Revolutionäre" den als "letzten Diktator" Europas verschrienen Präsidenten Alexander Lukaschenko zu Fall bringen. Doch der seit 17 Jahren mit harter Hand regierende Lukaschenko duldet keine Opposition.

Er werde keine Massenproteste nach dem Vorbild der arabischen Welt oder ehemaliger Sowjetrepubliken wie der Ukraine und Georgien zulassen, sagte Lukaschenko am 20. Jahrestag der Unabhängigkeit Weißrusslands am 3. Juli. Die Folgen dieser Umbrüche seien Chaos und Blutvergießen, warnte er in Paradeuniform seine Landsleute am Sonntag.

Doch die Proteststimmung gegen den 56-Jährigen nimmt zu, wie Beobachter meinen. Und über das Internet mobilisieren Lukaschenko-Gegner inzwischen mehr Bürger als die "klassische Opposition", die zersplittert ist und deren Wortführer größtenteils im Gefängnis sitzen.

"Wir kämpfen nicht um ein Stück Wurst, sondern um die Freiheit", heißt es im Aufruf der neuen "Bewegung Zukunft Belarus – Revolution über das soziale Netzwerk" auf vkontakte.ru. Aus den Hunderten, die in der Hauptstadt Minsk und anderen Städten wie Brest und Gomel auf die Straße gehen, sollen schon bald Zehntausende werden.

Diese so bezeichneten Mittwochproteste haben im Juni begonnen – und sollen zunächst nur für stumme Aktionen genutzt werden. Schweigen und gelegentliches gemeinsames Klatschen lautet die Taktik, mit der Lukaschenkos System zermürbt werden soll. Das Vorgehen ist neu, nachdem die Behörden zuletzt Oppositionsproteste mit Sprechchören und Transparenten niedergeschlagen hatten.

Wie ernst die Behörden selbst diese leise Form des Protestierens nehmen, zeigt das gewaltsame Vorgehen von Sicherheitskräften in Zivil und ohne Erkennungsmarken gegen friedliche Demonstranten. Rund 400 Festnahmen gab es landesweit allein zum Tag der Unabhängigkeit. In der Hauptstadt Minsk ging die Polizei nach Beobachtungen von Menschenrechtlern mit brutaler Gewalt und Tränengas gegen friedliche Passanten vor.

Lukaschenko selbst sei für die "verbrecherischen Befehle" verantwortlich, arglose Bürger zu schlagen, auf den Boden zu werfen und festzunehmen, schreiben die "Internet-Revolutionäre" in einem offenen Brief an den Staatschef.

Die Gewaltbereitschaft von Lukaschenkos Behörden gegen das eigene Volk zeigt aus Sicht von Politologen die zunehmende Nervosität in der Minsker Führung. Das Land hat mit der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zerfall der Sowjetunion zu kämpfen – und ist wegen wirtschaftlicher Sanktionen der EU und der USA weitgehend isoliert.

Der Weißrussische Rubel ist massiv abgewertet, die Inflation liegt deutlich über 30 Prozent, Preise steigen und Arbeiter streiken angesichts ausbleibender Lohnzahlungen. Lukaschenko hofft dringend auf Finanzhilfen Russlands und des Internationalen Währungsfonds IWF.

"Die Machthaber wissen nicht mehr, was eigentlich vor sich geht im Land. Sie haben den Kontakt zum Volk verloren und dieses Unwissen erzeugt Angst", meint der Politologe Waleri Karbalewitsch. Das Internet gilt in Weißrussland als verbreitet und als eine der letzten Möglichkeiten, sich unabhängig zu informieren. Oppositionszeitungen sind weitgehend verboten, Staatsmedien gesteuert.

Allerdings ist aus Sicht der Politologin Marina Rachlej bisher nicht klar, ob die übers Internet organisierten Proteste wirklich an Schlagkraft gewinnen. Zudem werde das Internet in Belarus streng kontrolliert – und sei etwa in Cafés und Postämtern nur unter Vorlage des Ausweises nutzbar. "Es gibt keine klare Tendenz. Schweigen und Klatschen ist zu wenig", sagte Rachlej der dpa. Für viele seien die Proteste aber ein Ventil. (anw)