Das dunkle Geschäft mit den Pillen

Von wegen Viagra: Viele US-Amerikaner besorgen sich inzwischen auch alltägliche Medikamente über Spam-Emails, weil die Mittel in herkömmlichen Apotheken unerschwinglich werden, zeigt eine neue Studie.

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Von
  • Niels Boeing

Von wegen Viagra: Viele US-Amerikaner besorgen sich inzwischen auch alltägliche Medikamente über Spam-Emails, weil die Mittel in herkömmlichen Apotheken unerschwinglich werden, zeigt eine neue Studie.

Spam ist mittlerweile fast ein Synonym für Viagra-und Pillenwerbung. Dass irgendjemand sie ernst nehmen könnte, erscheint eigentlich absurd. Nun zeigen Untersuchungen der University of California in San Diego (UCSD), dass speziell US-Amerikaner sich tatsächlich immer wieder aus Spam-Mails in Online-Shops klicken, um Medikamente zu kaufen.

„Die Leute wenden sich dorthin, wenn ihnen ein Gespräch mit dem Arzt unangenehm ist, oder wenn die Medikamente sonst sehr teuer wären“, sagt Chris Kanich , Leiter der UCSD-Studie.

Die bisherigen Schätzungen, wieviel Umsatz mit Spam-ausgelösten Käufen gemacht wird, schwanken zwischen 300.000 und 58 Millionen Dollar im Monat. Der untere Wert ist definitiv zu niedrig: Wie Kanichs Gruppe herausfand, setzt allein die größte der halbseidenen Online-Apotheken monatlich zwischen einer und 2,5 Millionen Dollar – eine nach Aussagen der Forscher konservative Schätzung.

Die UCSD-Forscher analysierten für ihre Untersuchung Transaktionsdaten der sieben großen Online-Apotheken, die per Spam beworben werden. Dabei wurden keine Datenbanken gehackt oder Ähnliches. Die Webforscher machten vielmehr Testkäufe in den Shops und entdeckten dabei, dass die Bestellnummern Informationen über das Kaufvolumen enthalten. Kauften sie zweimal mit einem gewissen zeitlichen Abstand, entsprach die Differenz zwischen erster und zweiter Bestellnummer der zwischenzeitlich verkauften Gesamtmenge an Produkten.

Um nun herauszufinden, welche Präparate Spam-Kunden kauften, nutzte die Gruppe eine versteckte Funktion in den Webseiten aus, die den Marktführer EvaPharmacy bewirbt. Über sie stellten Kanich und seine Kollegen fest, dass zwei Drittel aller Online-Ableger von EvaPharmacy die Bilder auf den Webseiten „ausgelagert“ hatte: Sie wurden von gehackten Servern ahnungsloser Dritter geladen.

Die UCSD-Forscher kontaktierten einen der Serverbetreiber, der daraufhin die aufgelisteten Traffic-Daten seiner Rechners zur Verfügung stellte. Diese Daten enthielten auch die IP-Adressen der Seitenbesucher in den Online-Apotheken. Anhand derer konnten die Wissenschaftler die Zahl der Spam-Kunden bestimmen sowie deren Herkunftsland.

Die Aufzeichnungen enthüllten außerdem, dass die Käufer nach dem Beginn des Bestellvorgangs auf eine neue Produktseite umgeleitet wurden, auf der sie die Dosierung der Präparate und die Anzahl der Packungen angeben mussten. Auf der Folgeseite mit dem virtuellen Einkaufswagen wurden dann Bilder mit weiteren Produktempfehlungen eingeblendet.

Indem sie Aufrufe des Einkaufswagens von verschiedenen IP-Adressen miteinander verglichen, konnten sie den Anteil der Seitenbesucher ermitteln, die eins dieser Bilder anklickten. Hieraus schlossen die UCSD-Forscher, welche Produkte jeder Kunde ausgewählte hatte.

Ergebnis: US-Nutzer zeigen bei Medikamenten ein ganz anderes Kaufverhalten als Kanadier oder Westeuropäer. Während Letztere in 92 Prozent der Fälle „Lifestyle-Pillen“ – etwa Wachstumshormone oder Mittel gegen Erektionsstörungen – kauften, waren es bei US-Bürgern nur 67 Prozent. Anders ausgedrückt: Bei 33 Prozent aller Käufe wählen Amerikaner reguläre, aber rezeptpflichtige Medikamente gegen Leiden wie Bluthochdruck, Nasennebenhöhlen-Entzündungen, Haarausfall, Angstzustände oder Krebs.

„Der Unterschied dürfte auf die verschiedenen Gesundheitssysteme zurückzuführen sein“, vermutet Kanich. „In Kanada und Europa werden normale Medikamente im Wesentlichen von Krankenversicherungen übernommen, so dass dort nur Lifestyle-Präparate interessant sind.“

Hingegen sähen nicht oder nur unzureichend Versicherte in den USA in den zwielichtigen Online-Apotheken die einzige Möglichkeit, überhaupt an verschreibungspflichtige Medikamente heranzukommen. Insgesamt werden 85 Prozent aller „Nicht-Lifestyle“-Präparate von US-Kunden gekauft.

Ein weiterer Grund hierfür ist, dass in den USA für rezeptpflichtige Medikamente keine Preisbindung besteht: Apotheken können selbst auswählen, wieviel sie verlangen. In den letzten fünf Jahren sind die Arzneimittelpreise nach einer Untersuchung der AARP Jahren zwischen 40 und 92 Prozent gestiegen. Offenbar ist das US-Gesundheitssystem einer der Treiber, die Medikamentenspams zu einem durchaus funktionierenden Geschäftsmodell machen. (nbo)