Verändert das Internet unser Gedächtnis?

Eine Studie will zeigen, wie der Mensch die ihm zur Verfügung stehenden Werkzeuge einsetzt, um sein Gehirn zu entlasten.

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Von
  • Kenrick Vezina

Eine Studie will zeigen, wie der Mensch die ihm zur Verfügung stehenden Werkzeuge einsetzt, um sein Gehirn zu entlasten.

Im Web sind gigantische Datenmengen mit wenigen Schlüsselbegriffen jederzeit abrufbar. Wäre es da nicht logisch, dass Menschen beginnen, sich weniger Informationen zu merken? Und falls ja, welche negativen Konsequenzen hat das?

Betsy Sparrow, Juniorprofessorin an der Columbia University, versucht nun, dies in einer Studie näher zu erforschen. Ihr Zwischenfazit: Es scheint tatsächlich zu einer Veränderung im "Speicherverhalten" zu kommen.

Allerdings heißt das nicht auch, dass wir mental weniger agil werden. Stattdessen wird das Netz zu einem weiteren Werkzeug wie andere "soziale" Gedächtnishilfen auch – Freunde beispielsweise, die sich bei einem Thema besonders gut auskennen. Das Internet macht uns also nicht "dümmer", meint Sparrow.

Insgesamt vier Experimente enthielt die Studie, die jetzt in der Online-Ausgabe der Fachzeitschrift Science erschienen ist: Beim ersten Versuch ging es darum, dass die Testpersonen – allesamt Internet-gewohnte College-Studenten – eine Reihe von Aussagen lesen und dann in einen Computer eintippen sollten. "Gummibänder halten länger, wenn man sie in den Kühlschrank legt" war einer der Beispielsätze. Der einen Hälfte der Teilnehmer wurde allerdings gesagt, dass die einzutippenden Aussagen parallel gespeichert werden. Die andere Hälfte der Probanden glaubte, die Daten würden gelöscht. Außerdem sollte sich eine Hälfte der Teilnehmer die Aussagen beim Tippen merken, die andere dagegen nicht. Das Ergebnis: Die Teilnehmer, die glaubten, dass die Sätze gelöscht würden, konnten sich besser an sie erinnern – egal, ob man von ihnen explizit verlangte, sie sich zu merken.

In einem weiteren Experiment sollten die Teilnehmer die Sätze erneut in einen Computer eintippen, wobei einigen gesagt wurde, dass die Aussagen in einem bestimmten Ordner auf dem Rechner gespeichert sind. Es kam, wie es kommen musste: Eine Mehrzahl der Teilnehmer konnte sich die Namen der Ordner besser merken, als die zu lernenden Sätze selbst.

Sparrows Experimente legen nahe, dass unsere Gedächtnisleistung offenbar nachlässt, wenn wir wissen, dass wir Fakten online problemlos nachsehen können. Der Mentor der Forscherin und Co-Autor der Studie, Daniel Wegner vom Institut für Psychologie an der Harvard University, hatte einen Vorläufer dieser Theorie bereits vor 30 Jahren entwickelt.

Er nannte das Phänomen "Transaktionsgedächtnis", eine Art kollektiven sozialen Speicher. Hat man beispielsweise einen Freund, der sich gut mit griechischer Literatur auskennt, muss man sich nur merken, dass die Ilias griechisch ist und man einen Freund hat, der einem damit helfen kann. Weitere Details werden weniger wichtig, etwa, wer die Ilias denn bitte geschrieben hat. Sparrow und Wegner glauben, dass das Netz eine ähnliche Funktion übernimmt – als Erweiterung dieses externen Gedächtnisses.

Mary C. Potter, Professorin für Psychologie am Institut für Gehirn- und Kognitionswissenschaften des MIT, kommentiert, dass Sparrows Studie den gesunden Menschenverstand untermauere: Wir verwenden eben externe Werkzeuge, um Informationen zu behalten. Allerdings hält sie viele der Ergebnisse nur für teilweise statistisch signifikant. Deshalb solle die Studie vor allem als Gedankenanstoß begriffen werden, meint Potter.

Die MIT-Professorin stellt sich außerdem die Frage, ob die Ergebnisse eher einem soziologischen als einem psychologischen Phänomen zuzuordnen sind. Wenn ein Freund sein Smartphone herausholt, um Informationen über eine Band nachzuschlagen, könnte er das tun, weil es ihm Spaß macht oder er Freunde beeindrucken will – und nicht, weil sich sein Gehirn verändert hat.

Der Autor Nicholas Carr gilt als führende Stimme in der Debatte um die Frage, wie sehr das Internet unseren Geist verändert. In seinem Buch "The Shallows", das im Juni erschien, argumentierte er, das Netz habe einen negativen Effekt auf unsere Gehirnleistung, was er von mehreren Studien untermauert sieht. Sparrows Untersuchung zeige nur, sagt er, "wie flexibel unser Gehirn ist, sich an unsere Werkzeuge anzupassen".

Carr ist allerdings nicht davon überzeugt, dass diese Anpassung etwas Positives ist. "Es ist von großer Bedeutung, sich daran zu erinnern, dass es einen Unterschied zwischen externem und internem Gedächtnis gibt." Wenn etwas nicht verinnerlicht werde, sei es auch weniger persönlich, weniger unterscheidbar "und, letztlich, wie ich meine, auch oberflächlicher".

Sparrow hält die offenbar stattfindende Veränderung dagegen für grundsätzlich positiv. "Unser Geist passt sich an das Internet an, wie er sich an andere Technologien wie das geschriebene Wort angepasst hat."

Die Forscherin will nun die möglichen Vorteile des externen Gedächtnisses mit weiteren Experimenten nachweisen. Ein Beispiel: Wenn ein Gesichtsstudent eine faktenreiche Passage eines Lehrbuches über die amerikanische Revolution liest, mit zahlreichen Daten und Namen, würde er die Zusammenhänge vielleicht besser verstehen, wenn er die Gewissheit hat, die Details auch über das Internet abrufen zu können? Sparrows Hypothese: Wenn wir erwarten, dass Kleinigkeiten auch später noch verfügbar sind, fällt es uns leichter, die größeren Zusammenhänge im Informationswirrwarr zu erkennen. (bsc)