Neue Lesegeräte, alte Ängste
In Frankfurt zeigten die deutschen Buchhändler ihre Antworten auf den neuen Kindle von Branchenprimus Amazon. Doch „einfach nur Lesen“ ist nicht mehr genug: Das Schmökern soll sozialer und vernetzter werden.
- Johannes Haupt
Am 12. Oktober begann Amazon Deutschland offiziell die Auslieferung seiner neuen Kindle-Generation. Am gleichen Tag öffnete die Frankfurter Buchmesse ihre Pforten, die mehr denn je im Zeichen der Digitalisierung stand. Die ambivalente Grundstimmung in der Buchbranche äußerte sich schon während der Eröffnungsfeier: Buchmesse-Chef Jürgen Boos lobte in seiner Rede die Potenziale und neuen Möglichkeiten durch digitale Literatur – so greife das Trendthema Social Reading die Idee des Lesekreises auf und ermögliche einen Austausch zu Literatur über Landesgrenzen hinweg. Gottfried Honnefelder, Vorsteher des Buchbranchenverbandes, sang dagegen wieder das hohe Lied der Gefahr durch Piraterie und forderte „spürbare Sanktionen für rechtswidriges Handeln“. In diesem Zusammenhang mahnte er eindringlich vor dem wachsenden Einfluss der Piratenpartei und forderte die etablierten Parteien dazu auf, sich nicht „aus wahltaktischen Gründen einer kleinen Gruppe von lautstarken Netzaktivisten“ anzunähern. Ein kleiner Piratenhaufen zeigte am ersten Messetag vor dem Haupteingang der Buchmesse Präsenz und demonstrierte gegen das von Zeitungsverlagen geforderte Leistungsschutzrecht.
Neue E-Book-Reader vom Buchhandel
Der neue Platzhirsch war auf dem Messegelände im Wesentlichen in Gesprächen präsent: Amazon blieb der Buchmesse wie in den Vorjahren weitgehend fern. Der neue Kindle kostet nur noch 99 Euro, 40 Euro weniger als das Vormodell. Erhältlich ist der Sechs-Zöller ausschließlich über die Internetseite von Amazon, auch digitale Literatur soll nach dem Willen von Amazon nur aus dem hauseigenen Kindle Store geladen werden. Bei diesem Geschäftsmodell geht der stationäre Buchhandel leer aus. Zwischenhändler, die Buchhandlungen bislang vornehmlich mit gedruckten Büchern beliefern, wollen hier Abhilfe schaffen (siehe auch Artikel auf Seite 80).
So warben die beiden großen Zwischenhändler KNV und Libri auf der Buchmesse für ihre Pakete aus Lesegeräten und auf Buchhändler personalisierbare E-Book-Stores. KNV zeigte den schon auf der IFA vorgestellten iRiver Story HD Wi-Fi, der über ein besonders hochauflösendes E-Paper-Display verfügt (768 x 1024 Pixel auf sechs Zoll). Das Gerät ist ab dem 9. November in teilnehmenden Buchhandlungen und deren Online-Shops erhältlich und kostet 139 Euro. Über den integrierten Store gekaufte E-Books werden dem Buchhändler gutgeschrieben, bei dem die Hardware erworben wurde. Libri tritt mit dem Sony Reader PRS-T1 an Buchhändler heran. Der ebenfalls schon auf der IFA ausgestellte Sechs-Zöller mit berührungsempfindlichem Pearl-E-Ink-Display soll noch im Oktober zu haben sein und 149 Euro kosten. Das Gerät löst bei Libri den Acer Lumiread ab. Neben dem Sony Reader bietet Libri als „Niedrigpreisoption“ den Italica Reader. Das Sechs-Zoll-Gerät (baugleich unter anderem mit Pocketbook 301 und Cybook Gen3) ist mehr als vier Jahre alt, Blättergeschwindigkeit und Kontrast des E-Ink-Bildschirms fallen deutlich gegenüber aktuellen Modellen ab. Angesichts des Verkaufspreises von 99 Euro erwartet Libri trotzdem eine rege Nachfrage. Der Zwischenhändler rechnet damit, im Weihnachtsgeschäft 2011 mehr als doppelt so viele Geräte zu verkaufen wie im Vorjahr.
Libri.de-Chef Per Dalheimer erklärte im Gespräch mit der c’t, das Unternehmen habe in den vergangenen Monaten auch etliche Angebote für den Vertrieb von „LCD-Readern“ bekommen. Dabei könne allerdings kaum von Lesegeräten die Rede sein, das hintergrundbeleuchtete Display und die kurze Akkulaufzeit würden keine rechte Freude beim Lesen aufkommen lassen. Der Buchbranchenverband „Börsenverein des deutschen Buchhandels“ sieht das offenbar anders: Die MVB, eine Wirtschaftstochter des Börsenvereins, bringt zum Weihnachtsgeschäft einen eigenen E-Book-Reader auf den deutschen Markt. Der Trekstor Liro Color besitzt ein berührungsempfindliches LC-Display mit einer Bildschirmdiagonale von sieben Zoll, die Auflösung ist mit 800 x 480 Pixel deutlich grobkörniger als bei den in den USA verkauften Konkurrenten Amazon Fire und Nook Color (jeweils 1024 x 600 Pixel auf sieben Zoll). Das Gerät liest verschiedene E-Book-Formate, Epub und PDF auch mit Adobe-Kopierschutz. Daneben werden MP3s abgespielt, Kopfhörer liegen bei. Der interne Speicherplatz von 2 GByte ist via Speicherkarte um 32 GByte erweiterbar. Als Betriebssystem kommt ein angepasstes Android 2.1 zum Einsatz, auf den Android Market kann nicht zugegriffen werden. Das Lesegerät hat ein WLAN-Modul an Bord, mit dem man Libreka nutzen kann, den E-Book-Store des Börsenvereins. Auch die MVB möchte ihren E-Book-Reader über den Buchhandel vermarkten. Als Vertriebspartner konnten bereits die Filialisten Osiander und Lehmanns gewonnen werden, die das Lesegerät in ihren Buchhandlungen sowie in ihren Online-Shops anbieten werden. Der Trekstor Liro Color wird 100 Euro kosten.
Das von Weltbild und Hugendubel seit Anfang Oktober verkaufte Schwestermodell Trekstor eBook Reader 3.0 ist mit 60 Euro 40 Euro günstiger als der Liro Color; im Vergleich fehlen WLAN-Modul und Touchscreen. Der Sieben-Zöller soll nach Angaben von Weltbild-Chef Carel Halff dazu beitragen, dass das Unternehmen bereits im vierten Quartal diesen Jahres drei bis fünf Prozent seines Umsatzes mit digitaler Literatur macht – eine durchaus ambitionierte Prognose. Die beiden Buchhändler wollen eine sechsstellige Anzahl des Trekstor eBook Reader 3.0 verkaufen. Das Gerät wird sowohl in den Filialen als auch in den Online-Shops der Unternehmen erhältlich sein und soll mit TV-Spots beworben werden.
Thalia, hinter der DBH (Weltbild, Hugendubel) zweitgrößte deutsche Buchhandelskette, präsentierte auf der Buchmesse die zweite Generation seines Oyo. Der Oyo II ähnelt dem seit Herbst 2010 erhältlichen Vormodell optisch wie ein Ei dem anderen, Verbesserungen gab es nur unter der Oberfläche. So soll das Gerät eine längere Akkulaufzeit haben und mit einem schnelleren Prozessor ausgestattet sein, was der allgemeinen Betriebsgeschwindigkeit zugute kommen soll. Auf der Buchmesse ließ sich das nicht überprüfen, die Firmware der ausgestellten Testgeräte war extrem instabil. Bis zum Verkaufsstart soll die Bedienoberfläche aber fehlerfrei nutzbar sein. Das berührungsempfindliche 6-Zoll-Display kommt wie schon beim ersten Oyo nicht von E-Ink, sondern von dessen taiwanischem Mitbewerber SiPix. Im Vergleich zum Vormodell ist der Kontrast sichtbar besser, mit den Pearl-E-Ink-Panels des Kindle und des Sony Reader PRS-T1 kann der Oyo II aber nicht mithalten. Nach wie vor nutzt der Reader ein WLAN-Modul, über das mit dem Gerät auf den E-Book-Store von Thalia zugegriffen werden kann. Der Oyo II fällt mit 260 Gramm ausgesprochen schwer aus – die ähnlich dimensionierte Konkurrenz von Sony und Amazon bringt fast 100 Gramm weniger auf die Waage. Preislich liegt der Oyo II mit 119 Euro zwischen Sony Reader (149 Euro) und dem neuen Kindle (99 Euro). Der Sechs-Zöller soll von November 2011 an in den knapp 300 Thalia-Buchhandlungen in Deutschland, Österreich und der Schweiz sowie online bei Thalia und deren Mehrheitsbeteiligungen buch.de und bol.de erhältlich sein.
E-Books: Angebot wächst, Furcht bleibt
Alle großen Händler verkaufen ihre Literatur hauptsächlich als Epub-Dateien mit oder ohne Adobe-Kopierschutz, bei Fachliteratur ist immer noch das statische PDF-Format angesagt. Weil sich alle erwähnten Lesegeräte mit diesen Formaten verstehen, ist man beim E-Book-Shopping nicht an den Verkäufer seines Lesegerätes gebunden, sondern kann sich seine Literatur auch aus anderen Quellen besorgen. Eine bedeutende Ausnahme ist in beiden Fällen Amazon: Der Kindle versteht sich nicht mit Epub-Dateien, eine Konvertierung mit Gratis-Tools wie Calibre ist vonnöten. Diese ist (ohne weiteres) nur möglich, wenn das E-Book nicht mit einem harten Kopierschutz behaftet ist. Aus Angst vor Piraterie setzen aber die meisten deutschen Verlage nach wie vor auf Adobe-DRM. Kindle-Besitzer können im kommerziellen Bereich somit tatsächlich im Wesentlichen nur die (kommerziellen) Titel lesen, die bei Amazon Deutschland gelistet sind, und sollten sich vor einer Anschaffung des Lesegerätes über das dortige Angebot informieren.
E-Book-Händler und auch der Buchbranchenverband appellieren seit Jahren an die Verlage, sie schädigten sich mit der Nutzung des harten Kopierschutzes mehr, als sie ihre Werke schützten. Als Alternative wird ein sozialer Kopierschutz postuliert: Dabei werden „offene“ E-Books sichtbar oder unsichtbar auf den Käufer personalisiert. Die Dateien sind frei konvertierbar und kopierbar – taucht ein mit Wasserzeichen versehenes E-Book in Tauschbörsen auf, lässt es sich aber anders als bei Titeln mit entferntem Adobe-DRM problemlos zurückverfolgen. Der Zwischenhändler Libri, der bislang ausschließlich hart kopiergeschützte E-Books anbot, offeriert ab November 2011 auch digitale Wasserzeichen. Libri.de-Chef Per Dalheimer zeigte sich aber skeptisch, ob es in absehbarer Zeit ein großes Angebot an E-Books ohne harten Kopierschutz geben werde.
Ökosysteme und Social Reading
Literatur aus dem Kindle Store kann zwar nicht auf anderen reinen Lesegeräten geschmökert werden, Amazon bietet aber eine Vielzahl von Lese-Apps für nahezu alle Plattformen an. Die Anwendungen synchronisieren auch Bookmarks und Notizen. Ein ähnlich großes „Ökosystem“ hat bislang nur Kobo. Auch die deutschen Händler rüsten auf: Libri hat zur IFA eine Android-App freigegeben, eine Leseanwendung für iOS-Geräte (iPad, iPhone, iPod Touch) gibt es seit längerem. In den ersten zwei September-Wochen wurden Android- und iOS-App nach Unternehmensangaben etwa gleich häufig heruntergeladen. Wie die meisten Händler verzichtet Libri bei der iOS-Software auf eine In-App-Purchase-Option, stattdessen werden Apple-Nutzer auf die Website umgeleitet. Wohl aus dem gleichen Grund verzichtet Thalia vorerst ganz auf eine iOS-App. Noch vor Weihnachten soll es eine Oyo-App für Android-Geräte geben, eine Anwendung für iPad & Co. folgt laut Thalia „zu einem späteren Zeitpunkt“.
Auf vielen Lesegeräten kann nicht nur geschmökert werden, mehr und mehr erhalten auch soziale Komponenten Einzug. Amazon zeigt in den USA schon seit Mitte 2010 auf Wunsch besonders häufig markierte Textstellen innerhalb der Kindle Books an. Zudem können Lesefreunde ihre Anmerkungen zu Textpassagen mit ausgewählten anderen Kindle-Nutzern teilen. Zur Internationalisierung dieser Funktionen hat sich Amazon noch nicht geäußert. Kobo spendiert jedem Buch sogar einen variablen Puls: Textstellen mit einer hohen sozialen Interaktion haben eine besonders hohe „Frequenz“. Über eine Social-Reading-App für Facebook können sich Nutzer auch mit ihrem Freundeskreis im sozialen Netzwerk über ihre Leseerfahrungen austauschen.
(Bild: Lovelybooks)
Einen anderen Ansatz verfolgt der deutsche Dienstleister Lovelybooks. Die Holtzbrinck-Tochter wirbt bei Verlagen für die Integration eines Buttons in ihre Titel, der zu einer Diskussion über das Buch auf Lovelybooks.de verlinkt ist. Auch Lesezirkel und Fragestunden mit Autoren sollen auf der Plattform stattfinden. Der Button kann sowohl in Epub-Dateien als auch in Apps eingebaut werden, die Diskussion ist damit weitgehend unabhängig vom genutzten Lesegerät – lediglich eine Internetverbindung ist nötig. Selbst auf einem deutschen Kindle lässt sich der sogenannte „Social Reading Stream“ öffnen, eine Diskussionsteilnahme macht ohne eine richtige Eingabemöglichkeit wie Touchscreen oder haptische Tastatur aber wenig Spaß. (jh)