Nokia reloaded

Anfang 2011 verkündete Nokia, Smartphones nicht mehr mit dem selbstentwickelten Symbian, sondern mit Microsofts Windows Phone 7 auszustatten. Die ersten Geräte der Lumia-Familie waren nun zu sehen – und sollen schon im November im Handel sein.

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Inhaltsverzeichnis

Auf seiner Hausmesse Ende Oktober in London wollte sich der finnische Mobilfunkriese von seiner besten Seite zeigen. Doch hinter der professionellen Selbstsicherheit war auch immer wieder Nervosität zu spüren, denn für Nokia steht viel auf dem Spiel. Durch den von CEO Stephen Elop Anfang des Jahres vollzogenen Strategiewechsel soll der freie Fall der Marktanteile bei Smartphones aufgehalten werden. Vor 3000 Fachbesuchern und Medienvertretern zeigte Elop die ersten beiden Windows Phones, das Lumia 800 und das kleinere 710. Per Liveschaltung in das Nokia-Werk in Salo wurden die Zuschauer Zeugen, wie die ersten Smartphones für den Versand fertig gemacht werden.

Beim Lumia 800 ist die Verwandtschaft mit dem erst vor Kurzem und nur in wenigen Ländern eingeführten Meego-Smartphone N9 unverkennbar. Erst auf den zweiten Blick fallen feine Unterschiede auf. Im Lumia 800 stecken – wie auch im 710 – ein einkerniger S2-Snapdragon-Prozessor von Qualcomm mit 1,4 GHz (MSM8255) sowie 512 MByte Arbeitsspeicher, WLAN (11b/g/n) und Bluetooth 2.1. Es funkt in allen UMTS- und GSM-Netzen.

Das Unibody-Gehäuse ist in Schwarz, Blau und Rosa lieferbar. Der nahtlos eingelassene und mit einem leicht gebogenen Glas geschützte kapazitive AMOLED-Touchscreen (480 x 800 Pixel) misst 3,7 Zoll (9,4 Zentimeter). Die Rückkamera mit Zeiss-Optik und LED-Blitzlicht nimmt Fotos in 8 MP und Videos in HD-Auflösung (720p) bei 30 Bildern pro Sekunde auf. Das Lumia 800 hat 16 GByte Speicher, eine Erweiterungsmöglichkeit gibt es nicht. Geladen wird über einen Micro-USB-Anschluss, der auch Datenverbindungen zulässt. Der nicht herausnehmbare 1450-mAh-Akku liefert nach Herstellerangaben genug Saft für bis zu 13 Stunden Gespräche, bis zu 265 Stunden Standby oder 55 Stunden Musik. Das Lumia 800 ist in Deutschland ab etwa Mitte November für knapp 500 Euro ohne Vertrag erhältlich.

Beim kleinen Modell hat Nokia am Gehäuse sowie an Display, Kamera und Speicher gespart. Das Lumia 710 hat ein gleich großes, aber ohne AMOLED ausgeführtes Touchdisplay, eine 5-Megapixel-Kamera und 8 GByte Speicher. Die Laufzeiten fallen etwas kürzer aus: 7,6 Stunden Sprechen, 38 Stunden Musikhören und 400 Stunden Standby verspricht Nokia. Das 710 ist für 320 Euro zu haben – allerdings noch nicht sofort, sondern erst gegen Ende des Jahres. Das in Schwarz und Weiß erhältliche Smartphone lässt sich mit bunten Plastikschalen aufpeppen, anfangs in Weiß, Schwarz, Blau, Rosa und Gelb.

„Für Nokia bricht ein neuer Tag an“, sagt Elop. Der für den glücklosen Ex-CEO Olli-Pekka Kallasvuo von Microsoft geholte Kanadier setzt mit Windows Phone auf ein Ökosystem mit Potenzial, das sich allerdings erst noch beweisen muss. „Wir hatten einige schwierige Momente und harte Entscheidungen zu treffen“, beschreibt er den Umbruch, der den Abschied von Symbian, Umwälzungen im Unternehmen und Entlassungen gebracht hat.

Mit den Lumia-Smartphones will Nokia verlorene Marktanteile zurückerobern.

Das neue Flaggschiff kann sich in den Details nicht mit aktuellen Topmodellen der Konkurrenz messen, was hauptsächlich an Einschränkungen von Windows Phone liegt: Der Version 7.5 fehlt die Unterstützung für höhere Display-Auflösungen, Zweikern-Prozessoren, Frontkamera, SD-Slot und NFC-Chip. Doch ist das Lumia 800 ein solide ausgestattetes und optisch ansprechendes Smartphone, das moderne Design von Windows Phone hebt es von iOS und Android ab.

Bisher konnte Microsofts Mobilsystem trotz wohlwollender Kritiken nur einen Marktanteil von unter zwei Prozent erreichen, weniger als Blackberry und Symbian. Doch Beobachter trauen Windows Phone zu, sich als drittes großes Ökosystem neben iOS und Android etablieren zu können. Die Allianz der beiden lahmenden Riesen könnte dabei eine entscheidende Rolle spielen. Die zwei neuen Lumias sind „erst der Anfang“, betont Kevin Shields, der Nokias Windows-Phone-Programm leitet. Nokia investiere derzeit „sehr viel“ in die Smartphone-Entwicklung.

Ob Nokia im kommenden Jahr nachlegen kann, entscheidet maßgeblich über Erfolg oder Misserfolg des Strategiewechsels. „Sie werden in Zukunft noch eine Menge mehr sehen“, verspricht Shields, will zu konkreten Plänen aber noch nichts sagen. Nokia will die verlorenen Marktanteile zurückerobern. iPhone-Fans dürften allerdings schwer von ihrem kleinen Liebling zu trennen sein. Bei Android sieht Shields eine Chance, dass die Fragmentierung des Systems frustrierte Nutzer auf andere Plattformen treibt – wobei die Fragmentierung eher die Programmierer betrifft, aber die Nutzer kaum stören dürfte. Eher ärgern sich die Android-Nutzer über die Update-Politik von Google und den Telefonherstellern.

Zusätzlich zu Microsofts Musikladen Zune bietet Nokia einen weiteren Musikdienst an, „Mix Radio“. Dabei wird Musik kostenlos aufs Telefon gestreamt, wobei der Nutzer keinen Einblick in die Playlist hat: Wie beim Radio weiß er nicht, was als Nächstes kommt, kann aber immerhin im Unterschied zum normalen Radio-Broadcast zum jeweils nächsten Song schalten. Außer fertigen, von Algorithmen zusammengestellten Programmen, die nach Aktualität (Charts), zwölf Genres (zum Beispiel Indie) oder Musikepochen (etwa 80er) vorsortiert sind, lassen sich auch personalisierte Playlists etwa durch die Suche nach ein bis drei Künstlernamen erstellen. Mit einem Web-Tool können Nutzer zudem am PC anhand ihrer eigenen Musiksammlung ein Programm zusammenstellen.

Die Playlists umfassen je nach Thema jeweils etwa 60 bis 200 Stücke, erklärt ein Mitarbeiter von Nokia Music. Mix Radio könne auf ein Repertoire von insgesamt rund 12 000 Songs aus Nokias Music Store zurückgreifen. Die Musik wird mit 32 kBit/s gestreamt, um das Datenaufkommen gering zu halten. Die Sender lassen sich für die Offline-Nutzung aufs Telefon herunterladen, aber nicht auf andere Geräte übertragen oder anderweitig weitergeben. Mix Radio ist mit dem Nokia Music Store vernetzt, alle gestreamten Songs lassen sich auch als Download kaufen.

Deutsche Kunden schauen allerdings vorerst in Sachen Mix Radio in die Röhre. Der vollmundig als global angekündigte Dienst wird in Deutschland vorerst nicht angeboten. Nähere Angaben zu Hintergründen macht Nokia nicht, verweist aber auf Gespräche mit Rechteinhabern.

Nokia bringt die aus Gate5 und Navteq hervorgegangene Navigation in die Zusammenarbeit mit Microsoft ein. Die Sparte ist nun eine Business Unit mit eigener Verantwortung für Umsatz und Ertrag. Entsprechend wird Nokia Maps breiter aufgestellt und soll die Basis aller Microsoft-Kartensysteme werden, auch für Windows Phone.

Darauf aufbauend entwickelt Nokia eigene Apps, die vorerst den Lumia-Geräten vorbehalten bleiben: Nokia Drive, Nokia Maps und die Anwendung Pulse, die Location Sharing mit Gruppen von Freunden ermöglicht. Dazu erweiterte Nokia die Anwendung „Public Transport”, auf deutsch „Busse und Bahnen”, von der Testregion Berlin/Brandenburg auf insgesamt 430 Städte weltweit, davon 45 mit aktuellen Ankunfts- und Abfahrtszeiten. Nokia Drive bietet auf den Lumia-Phones eine kostenlose Navigation für Autos und Fußgänger. Karten lassen sich vorab per WLAN direkt auf das Telefon übertragen, sodass unterwegs keine Kosten für die Datenübertragung anfallen. Eine ähnliche Lösung bietet Nokia bereits für die Symbian-Handys und das mit Meego laufende N9 an.

In Zukunft wird Nokia Maps, das bisher bereits für Symbian, Meego, mobile Browser auf iOS und Android sowie mit Plug-in auch auf Desktop-Browsern verfügbar war, voll auf WebGL setzen, um dreidimensionale Ansichten auch ohne Plug-in bieten zu können.

Shields schließt dabei nicht aus, die zunächst exklusiv auf Nokia-Smartphones erhältlichen Anwendungen mittelfristig auch für Windows Phones anderer Hersteller freizugeben. Die Zusammenarbeit mit Microsoft klappe gut, sagt der Nokia-Manager: „Wir beeinflussen uns gegenseitig.“

Während hierzulande die Smartphones besonders im Rampenlicht stehen, hat Nokia einen weiteren Fokus: die nächste Milliarde Menschen mit dem Internet zu verbinden. In den Schwellenländern tritt Nokia mit ganz anderen Telefonen an, die nun unter der Marke Asha (Hindu für „Hoffnung”) firmieren. In London hat Nokia vier Handys vorgestellt, die zu Preisen zwischen 60 und 115 Euro (vor Steuern und Subventionierung) als Einstiegsmodelle gelten können: das Asha 200, 201, 300 und 303.

Asha 303: noch ein Handy oder schon ein Smartphone?

Interessant ist, dass sie mit populären Apps ausgestattet sind. So gibt es neben Facebook-Chat auch den weitverbreiteten Whatsapp-Messenger und andere in einigen Ländern wichtige soziale Netzwerke wie RenRen und Orkut. Die Handys laufen unter S40 und ermöglichen so einige Features und Anwendungen, die man von besser ausgestatteten Smartphones kennt. Dass das auch mit weniger Hardware-Ressourcen geht, zeigt die Portierung des beliebten Spiels Angry Birds für die Ashas mit Touchscreen. „S40 ist wirklich sehr effizient“, lobt Handy-Chefin Mary McDowell die Plattform, sie sei immer noch konkurrenzfähig und habe „eine lange Zukunft vor sich.“

Drei der Modelle haben eine QWERTY-Tastatur, das Asha 300 mit resistivem Touchscreen hat eine klassische Handy-Tastatur mit zwölf Tasten. Trotz 3G und WLAN installiert Nokia einen Browser, der serverseitig Webseiten komprimiert – ähnlich der bei Opera Mini und Mobile eingesetzten Technik. Das Flaggschiff Asha 303 kommt mit einem 2,6 Zoll großen kapazitiven Touchscreen (QVGA).

Das Asha 200 lässt den Einsatz von zwei SIM-Karten zu, die sich zudem während des Betriebs tauschen lassen (Easy Swap). Telefone mit mehreren SIMs wären auch in Europa sinnvoll, etwa um auf Auslandsreisen eine lokale SIM zu verwenden, ohne die Erreichbarkeit mit der normalen Telefonnummer zu verlieren. Die Netzbetreiber leisten jedoch Widerstand gegen solche Lösungen. Nokia bietet das Modell daher auch mit nur einem SIM-Schacht als Asha 201 an. Beide sollen besonders laute Lautsprecher haben und bis zu 52 Stunden Musik abspielen können.

Nokia lebt in interessanten Zeiten. Wer an Smartphones interessiert ist, denkt zunächst an Apples iPhone, dann an Android. Symbian schmiert deutlich ab, Meego kam trotz des gelungenen N9 gar nicht erst in die Gänge. Nun müssen die schwächelnden Partner Microsoft und Nokia den Durchbruch mit Windows Phone und den Lumias schaffen.

Allerdings trägt Elops Strategie schon erste Früchte. Auf dem N9 aufbauend hat es das Lumia 800 in nur acht Monaten nach Verkündung der Allianz mit Microsoft auf den Markt geschafft – für Nokia, sonst für wesentlich längere Produktzyklen berüchtigt, ein wichtiger erster Schritt. Im nächsten Jahr soll die Wende dann vollzogen werden. Die Nokia-Führung ist sicher, dass das auch gelingt. Handy-Chefin McDowell gibt das Motto aus: „Wir holen uns die Marktanteile im High-End-Bereich zurück“. (jow)