Atomarer Hausputz

Der Kampf um die Dekontamination nach der Katastrophe von Fukushima deckt mal wieder eines auf: Riskante Großtechnik zu nutzen, ohne für den Ernstfall zu planen, verursacht Kompetenzchaos.

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Von
  • Martin Kölling

Der Kampf um die Dekontamination nach der Katastrophe von Fukushima deckt mal wieder eines auf: Riskante Großtechnik zu nutzen, ohne für den Ernstfall zu planen, verursacht Kompetenzchaos.

Ich weiß nicht, ob irgendein Land die Katastrophen-Trinität aus Mega-Erdbeben, Riesen-Tsunami und Atomunfall besser bewältigt hätte als Japan. Aber eines wird deutlich: Das Land hätte die Krisen weit besser meistern können, hätte es sich auf den Ernstfall, besonders den atomaren, konkret vorbereitet. Doch die Lage in der Krisenregion zeigt immer deutlicher, dass die Aufräumarbeiten von einem beispiellosen Kompetenzwirrwarr und dem Fehlen von durchdachten Maßnahmen gebremst werden. Bei der Frage der Dekontamination wird dies besonders deutlich, denn hier produzieren die Fehler der Vergangenheit Chaos und steigern die ohnehin schon große Verzweiflung der Menschen, die in Ost- und Nordost-Japan wohnen.

Generell steht die Regierung schon lange in der Kritik, weil die Wiederaufbauhilfe nach einer Naturkatastrophe noch nie so langsam bei der betroffenen Bevölkerung angekommen ist wie nach dem Erdbeben vom 11. März. Das Ausmaß der Katastrophe erklärt dies zum Teil, aber vor allem fehlten die Krisenpläne, die die Regierung hätte aus der Schublade ziehen können. Ein Beispiel war der Umgang mit Lebensmitteln aus der Region um das havarierte AKW Fukushima 1.

Die Regierung versprach, dass keine verstrahlten Lebensmittel in den Handel kommen könnten, ohne das sie ein System hatte, das zu verhindern. Zuerst wurde der Evakuierungsbereich sehr klein gewählt, obwohl klar war, dass Ortschaften jenseits der 20-Kilometer-Sperrzone um die Meiler hoch verstrahlt waren. Dann wurde der Verkauf von Lebensmitteln auf der Grundlage von Strahlenproben des Ackers und nicht unbedingt der Lebensmittel selbst gebannt. In Europa wären in diesem Fall alle Agrarerzeugnisse in einem weiter definierten Sperrbezirk einkassiert und vernichtet worden, um auf Nummer sicher zu gehen.

Von dem oft gepflegten japanischen Standpunkt der Vermeidung von Verschwendung ("mottainai" – "es ist schade drum") ist dies nachvollziehbar. Aber es führt nun dazu, dass Lebensmittel aus Fukushima im Handel sind und die Bevölkerung extrem verunsichert ist. Erschwerend kam noch hinzu, dass es kein verpflichtendes Messsystem für die Produkte gab, vom Mangel an geeigneten Messinstrumenten und Richtlinien für Messungen ganz zu schweigen. Das Ministerium für Erziehung und Wissenschaft bat vielmehr die Präfekturregierungen, die Gemeinden zu bitten, doch bitte die Strahlen zu messen. Natürlich kamen dabei auch verseuchte Lebensmittel in den Handel.

Ein anderer Beleg für das Kompetenzwirrwarr ist, dass das Erziehungsministerium für die Strahlenmessung zuständig ist, nicht aber für die Analyse, Einordnung und Gegenmaßnahmen. So weiß die eine Hand oft nicht, was die andere tut. Das "Asian Wall Street Journal" hat ein besonders gelungenes Beispiel veröffentlicht. Ein Landschaftsgärtner war von einem Klienten wie empfohlen mit der Beseitigung der Grassschicht im Garten beauftragt worden. Er rief daraufhin beim örtlichen Büro zur Überwachung von Arbeitsrichtlinien an, ob er dafür eine besondere Lizenz benötigen würde. Das Büro verwies ihn an das Erziehungsministerium, das ihn an das Umweltministerium weiterreichte, das ihn an das Erziehungsministerium zurückverwies. Daraufhin wendete er sich an einen Abgeordneten des Präfekturparlaments und der sagte ihm, er solle mal machen.

Das Chaos zieht sich durch die ganze Szenerie. Da verspricht die Regierung der Bevölkerung aus politischen Gründen kurzerhand, die Strahlendosis in teilweise evakuierten Gebieten außerhalb der Sperrzone in drei Jahren auf ein Millisievert pro Jahr zu senken, ohne einen Plan zu haben, wie das wohl geschafft werden kann. "Es ist noch nicht klar, wie wir Strahlung in Gebieten mit hoher Radioaktivität senken können", sagt der zuständige Beamte im Umweltministerium, das irgendwie dafür verantwortlich ist.

Derweil hat der nukleare Hausputz bereits begonnen – und zwar nach Vorschlägen von Japans Gesellschaft für Atomenergie. Die hat ihre Reinigungstipps in einer 32-seitigen Präsentation zusammengefasst: Fünf Methoden für das Haus, sechs für den Garten, drei für Spielplätze und Parks und so weiter. Aber sie müssen ihre Tauglichkeit in der Praxis noch beweisen. Ein Problem ist dabei ihre Effektivität. Bereits seit Wochen schrubben Hausbesitzer wie von den Experten empfohlen in nicht evakuierten Regionen Fukushimas ihre Dächer, Regenrinnen und Gossen, spritzen Hauswände mit Wasser aus Hochdruckdüsen ab. Oder decken im Extremfall die Dächer neu oder streichen die Wände. Nur haben die Tests nachgewiesen, dass diese Methoden eher Placebos gegen die Strahlenangst sind. Die aktuellen Strahlungswerte senken sie nur wenig. Oder sie verlagern das Problem nur vom Dach in das Abwassersystem, in die Kläranlage oder in den Fluss.

Ein andere Maßnahme ist das Abtragen der obersten Erdschichten. Aber bitte wo und vor allem wie sollen radioaktiv belastete Erde, das Laub, die Äste und so weiter gelagert werden? In ihrer Not kippen die Gemeinden den Müll in einer Ecke ihrer Ortschaft zusammen, ohne den Untergrund abgedichtet zu haben oder die rasant wachsenden Halden gut abzudecken, weil noch keine endgültigen Lagerstätten designiert wurden. Dies ist keine gute Idee, weil Radioaktivität so doch in die Nahrungskette oder gar ins Grundwasser eindringen kann.

Das Problem ist dabei nicht, dass es der Menschheit an Erfahrung mit diesem Problem fehlt. Man hätte ja nicht einmal in der Ukraine anklopfen müssen, ein Anruf beim Bündnispartner USA hätte es auch getan. Schließlich kämpft das Land seit Jahrzehnten in Hanford, einem riesigen Atomwaffenfabrikgelände, mit der Dekontamination. Das Problem war, dass Japans Behörden bisher schlicht den Ernstfall nicht ernsthaft durchdacht haben.

Wozu auch, haben Behörden und Regierungen doch immer wieder versichert, dass so ein Unfall nicht passieren könnte. Die Planung für den Ernstfall – bis hin zur Entwicklung von Rettungsrobotern – hätte diese Behauptung ja als Lüge entlarvt. Erst jetzt werden Richtlinien mit Tests im Freilandlabor, sprich mit den Betroffenen als Versuchskaninchen, entwickelt.

Dies ist eine der fahrlässigen Unterlassungen durch Japans Ministerien und Regierungen der vergangenen Jahrzehnte, die im Land bisher noch nicht einmal ansatzweise diskutiert worden ist. Für die Betroffenen künftiger Katastrophen hoffe ich, dass jetzt wenigstens die Krisenpläne massiv verbessert werden, wenn man schon nicht nach Schuldigen sucht. (bsc)